„Meine Musik ist das Echo meines Rufs“ – ein Gespräch mit dem Drone Ambient-Pionier Mathias Grassow

Mathias GrassowDenjenigen, die Mathias Grassow vielleicht noch nicht (oder nicht so gut) kennen, möchte ich ihn gerne kurz vorstellen: Mathias wurde 1963 geboren und wuchs in Wiesbaden auf. Nach ersten musikalischen Gehversuchen an Schlagzeug und Gitarre in den späten 70er Jahren wandte er sich der elektronischen, speziell der Ambient-Musik zu. Er veröffentlichte seine ersten Alben zunächst auf Cassette (in den 80ern gab es eine gut entwickelte Untergrund-Cassetten-Szene), bald aber auch auf LP und CD. International bekannt wurde er durch „El Hadra“ (1991), dem gemeinsamen Album mit dem ehemaligen Popol Voh-Musiker und Sufi-Mystiker Klaus Wiese, einem der Mitbegründer der ursprünglichen New Age-Szene (bevor deren kommerzielle Verwässerung einsetzte). Seither hat Mathias mit einem anhaltenden Strom von ausgezeichneten Veröffentlichungen sein ursprüngliches Konzept immer weiter verfeinert, vertieft und erweitert.

Mathias Grassow ist einer der Pioniere und herausragenden Vertreter des sog. Drone-Ambient, seine Spezialität sind ausdrucksstarke introspektive, oft auch dunkel anmutende minimalistische Klanglandschaften von besonderer spiritueller Intensität.

Während er anfänglich von deutschen Elektronik-Ikonen wie Tangerine Dream und Klaus Schulze fasziniert war, brachte ihn u.a. die Lektüre des Buches „Durch Musik zum Selbst“ des Münchner Komponisten Peter Michael Hamel (mit dem ihn seit Jahren auch eine persönliche Freundschaft verbindet) dazu, sich mehr und mehr den meditativen und auch heilenden Aspekten der Musik zuzuwenden; neben dem bereits erwähnten Klaus Wiese und der Musik von Peter Michael Hamel kann man auch teilweise eine Nähe zu den frühen Alben von Georg Deuter oder amerikanischen Ambient-Musikern wie Steve Roach erkennen.

Während Mathias seine Klänge hauptsächlich elektronisch erzeugt, ist er doch ein Multi-Instrumentalist und verwendet zur Erschaffung seiner Klangwelten auch Klangschalen, Tamboura, Zither, Flöten oder Obertongesang.

Auch nach seiner erfolgreichen Zusammenarbeit mit Klaus Wiese (aus der noch zwei weitere Alben hervorgingen) hat Mathias mit vielen anderen namhaften Ambient- (und anderen) Musikern zusammengearbeitet, unter anderem mit Rüdiger Gleisberg (mit dem er auch, zusammen mit Carsten Aghte, das Nebenprojekt „Nostalgia“ betreibt), Oöphoi, Alio Die, Bruno Sanfilippo, Jim Cole und dem (Metal-) Gitarristen John Haughm. Konzerte waren in den letzten Jahren nicht sehr zahlreich und beschränkten sich auf wenige sorgfältig ausgewählte Veranstaltungsorte; der nächste Auftritt von Mathias wird allerdings in recht naher Zukunft im Rahmen des Spectaculare-Festivals am 6. Februar in Prag stattfinden.

Michael Brückner: Ich finde es immer sehr interessant, auch den Weg eines Musikers zu seiner eigenen Musik nachzuvollziehen, deshalb setze ich mit meinen Fragen zunächst mal *ganz* früh an:

Kannst du dich erinnern, bei welcher Gelegenheit dir erstmals ein Drone als ein für sich allein genommen hörenswertes, klangliches bzw. musikalisches Ereignis bewusst aufgefallen ist? Oder an ein anderes musikalisches Schlüsselerlebnis aus deiner Kindheit?

Mathias Grassow: Nun, das waren wohl unbewusst eher Klänge, an die ich mich heute nicht mehr recht erinnern kann. Meeresrauschen …? Glocken aus der Ferne …? Es kommen, ebenso wie bei Gerüchen, Erinnerungen hoch, aber ich kann nicht deuten, weshalb mich z.B. die besagten Kirchenglocken aus der Ferne tief berühren. Ganz sicher auch musikalisch sehr früh … Ich weiß aber nicht mehr, welche Platten das waren.

Michael Brückner: War deine Familie oder allgemein dein Umfeld in deiner Kindheit künstlerisch geprägt, d. h. waren deine Eltern – oder andere wichtige Bezugspersonen – z. B. Musiker? Und da die Spiritualität in deiner Musik ja auch eine Rolle spielt, bzw. damit Hand in Hand geht, würde mich der Einfluss deiner Eltern in diesem Punkt auch interessieren.

Mathias Grassow: Ein solcher Einfluss war kaum vorhanden. Ich stamme auch nicht aus einer Musikerfamilie. Mein Bruder wollte Klavier lernen und meine Eltern boten mir dasselbe dann auch an. Ich wollte aber nicht den Weg des Orchestermusikers und der Konservatorien gehen. Was gut so war, denn als dann der Wunsch nach Tasten aufkeimte, war ich bereits 16 und fühlte deutlicher, was ich wirklich will.

Michael Brückner: Hast du als Kind ein Instrument gelernt? Wie hast du in deiner Schulzeit den Musikunterricht empfunden: förderlich / anregend - oder eher hemmend und einschränkend?

Mathias Grassow: Nein, als Kind lernte ich noch nichts. Das ging erst Ende der 70er los, mit einem selbstgebastelten Schlagzeug, dann Gitarre, dann Synthesizer. Der Unterricht in der Grundschule war dröge – nur Volkslieder vom Schlage „Im Frühtau zu Berge …“. Im Gymnasium drohte es dann erneut langweilig zu werden, aber ich hielt mit Schulze und TD, um nur einige zu nennen, erfolgreich dagegen.

Michael Brückner: Du bist ja in den 70ern aufgewachsen und hast dementsprechend eine nicht ganz untypische "musikalische Sozialisation" durchlaufen. Ich würde gerne mit dir über verschiedene Genre bzw. Gruppen von Bands und Musikern sprechen, die möglicherweise einen gewissen Einfluss auf Dein eigenes Musikschaffen hatten bzw. haben:

70er "progressiver" Rock / Hard Rock / Metal (und Artverwandtes)

Mathias Grassow: Bis heute sehr stark, allerdings ist ein Einfluss nicht direkt zu hören. Jede Musik beeinflusste mich irgendwie, aber ich grenzte auch ab: Es gab immer Rock und Elektronik gleichzeitig. Ich hörte über viele Jahre jeden Abend stundenlang Musik, je nach Stimmung und Laune. Irgendwo war eine Trennung da und doch geschah alles gleichzeitig.

Michael Brückner: "Klassische" 70er- Elektronik und Berliner Schule (vor allem Schulze und TD, aber auch Jarre, Vangelis, Cluster, Kraftwerk etc.)

Mathias Grassow: Erstaunlicherweise gar nicht mal so sehr, wenn man von TD und Schulze absieht. Die alte deutsche Elektronik und auch die daraus entstandene NDW [Neue Deutsche Welle, die Red.] war mir zu schräg, experimentell und zu nervig (z. B. NEU!). Ich mochte La Düsseldorf oder Kraftwerk nur beschränkt und zog es vor, die Münchner Schule zu hören.

Michael Brückner: Brian Eno (Fripp & Eno, Verwandtes...)

Mathias Grassow: Eno geht bis heute eigentlich weniger an mich; habe den Hype um ihn nie so ganz verstanden … Fripp wiederum schätze ich, besonders z. B. die Werke mit David Sylvian.

Peter Michael Hamel und Mathias Grassow
Peter Michael Hamel und Mathias Grassow

Michael Brückner: Popol Vuh, Klaus Wiese & Peter Michael Hamel (und Verwandtes)

Mathias Grassow: Extrem stark. Gerade Hamel ist einer meiner Haupteinflussgeber und Inspirationsquellen.

Michael Brückner: Peter Michael Hamel ist Komponist, Elektroniker, Autor und Dozent, und zufällig hat auch mich sein Buch "Durch Musik zum Selbst", ebenso wie seine frühen Alben, als junger Mensch sehr geprägt – deshalb möchte gerne genauer erfahren, wie das bei dir war.

Wie bist Du auf Peters Musik aufmerksam geworden?

Mathias Grassow: Es war eher Zufall. Das erste Album war „Nada“ und dann kaufte ich die anderen nach und nach.

Michael Brückner: Was ist dein Lieblingsalbum von ihm?

Mathias Grassow: Als komplettes Album die „Organum“. Ansonsten diverse Stücke von verschiedenen Alben, bevorzugt die mit Kirchenorgel und PPG-Synth.

Michael Brückner: Was ist für dich das Besondere an seiner Musik? Wie unterscheidet sie sich von der, die dich bis zu diesem Punkt beeinflusst hatte?

Mathias Grassow: Schwer zu sagen. Irgendwie berühren mich manche seiner Stücke derart tief, dass mir der Mund offensteht. Das ist bis heute so und ich bin verwundert, dass ein strukturierter, klassisch ausgebildeter Komponist in der Lage ist, mich so zu berühren. Ich kannte das zuvor eher von größtenteils improvisierter Musik. Dazu das Buch im Hintergrund … und ich verstand, dass er irgendwie begnadet ist.

Michael Brückner: Haben dich seine Anregungen (insbesondere in seinem Buch) direkt beeinflusst bzw. dir neue Bereiche eröffnet? Oder kanntest du die Themen, die er anspricht (asiatische Musik, Meditation, Ragas usw.) schon bevor du dich mit Peters Arbeiten beschäftgt hast?

Mathias Grassow: Nein, das Buch war schon eine Initialzündung und hat mir sowohl Wege geöffnet, als auch verständlich gemacht, wie alles zusammenwirkt. J. E. Behrendts Buch „Nada Brahma – die Welt ist Klang“ war später dann eine willkommene Ergänzung und Vertiefung.

Michael Brückner: Wann hast Du Peter persönlich kennengelernt?

Mathias Grassow: Oh, das war so Ende der 80er über den Frankfurter Ring, wo Peter Seminare und Konzerte abhielt.

Michael Brückner: Habt ihr jemals zusammen Musik gemacht?

Mathias Grassow: Nein, nie. Das stand aber auch nie zur Diskussion. Wir haben auch heute eher eine private Freundschaft.

Michael Brückner: Haben deine persönlichen Begegnungen mit ihm dir hinsichtlich deiner Musik weitere Impulse gegeben, die über das hinausgehen, was seine Alben und sein Buch dir schon vermittelt hatten?

Mathias Grassow: Nein, eigentlich nicht. Das Zusammensein, die Briefe natürlich irgendwie schon, nicht aber eine ‚Einsicht‘ oder ‚Impulse‘ aufgrund der Gespäche. Es ist eben interessant, wie sich ein Mensch vom unnahbaren Komponisten zu einem ganz normalen Wegbegleiter hin entwickelt. Unsere Begegnung 2016 hat mich ernüchtert, mir aber auch viel gegeben.

Michael Brückner: Hast du durch ihn weitere Musiker (oder vielleicht auch Produzenten / Label etc) kennengelernt, die dich in der Folge inspiriert haben oder anderweitig für dich und deine Arbeit wichtig waren, oder sind?

Mathias Grassow: Nein, da Peter in den 80ern bereits stark der komponierten Musik zugewandt war. Diese Welt ist im Großen und Ganzen dann doch eine ganz andere als die der Kuckuck-Platten und seines Buches. Es fielen oft Namen, die ich kannte und kenne (z. B. auch Michael Hoenig, um in der Elektronik-Szene zu bleiben), aber ich lernte eher durch Klaus Wiese interessante Menschen kennen.

Michael Brückner: Kannst du uns eine oder zwei Anekdoten oder interessante Begegnungen über bzw. mit Peter erzählen, an die du dich gerne erinnerst?

Mathias Grassow: Nun, das Intensivste war meine Begegnung mit ihm an Ostern 2016. Es war sehr privat, offen und menschlich. Ich habe den Menschen Peter kennengelernt, nicht mehr den Musiker. Das war verblüffend und von einer solchen – teils auch tragischen – Tiefe begleitet, dass ich Einzelheiten hier nicht zum Besten geben möchte.

Michael Brückner: Bevor ich auf einen ganz wichtigen Punkt zurückkomme, den wir in Verbindung mit der "Münchner Schule" schon angesprochen haben – nämlich den spirtuellen Aspekt von Musik, und Musik als ein Mittel zur Heilung – möchte ich gerne noch für diejenigen, die nicht so viel darüber wissen, deinen bisherigen musikalischen Werdegang betrachten.

Kannst du dich noch an das erste Stück erinnern, das du aufgenommen hast bzw. mit dem du zufrieden warst? Ist es auf einem deiner Alben enthalten?

Mathias Grassow: Meine ersten Stücke waren ganz schräge Schrammeleien auf der Gitarre und quäkende Synth-Töne. Auf einem meiner Alben? Um Gottes Willen! (lacht) Das ginge selbst als ‚wohlwollend experimentell‘ nicht mehr durch. Dilettantismus pur, aber auch Kult! Zufrieden war ich mit meinen ersten Mehrspuraufnahmen, das war circa 1981.

Michael Brückner: Welches war dein erstes Album, das auf einem Label veröffentlicht wurde? Wie kam damals der Kontakt mit dem Label zustande?

Mathias Grassow: Das war die Cassette „At the Gates of Dawn“, 1985 entstanden und im Februar 1986 über Aquamarin in München veröffentlicht. Das war eher ein an US-New-Age orientierter Buchversand, der auch den Musikmarkt für sich entdeckte und Kassetten produzierte, die hauptsächlich in Eso-Läden verkauft wurden. So verknüpften sich Spiritualität und Musik ganz automatisch für mich. Ich wandte mich aber Ende der 80er von dieser Art New Age ab, weil mir die Musik dann schließlich zu beliebig, süß und kitschig wurde.

Michael Brückner: Der Titel lässt direkt an Pink Floyd denken. War deine frühe Musik – oder speziell dieses Album – damals ausgesprochen PF-inspiriert?

Mathias Grassow: Nein, die Musik auf keinen Fall – aber diesen Titel fand ich interessant, und so habe ich ihn geklaut …

Michael Brückner: Wie war danach die Entwicklung in Hinblick auf Labels und Vertriebswege?

Mathias Grassow: Nach Aquamarin boomte dann ab 1990 die CD. Durch meinen Namen und Beziehungen kamen dann Labels auf mich zu. AIM aus München und auch das kultige „NO-CD-REKORDS“ aus Spanien, dann AMPLEXUS aus Italien usw. Anfang der 90er boomte auch Ambient ein wenig. Besonders Steve Roach, Robert Rich und Michael Stearns waren da etwas größer im Rennen. Alle drei schätze ich auch heute noch sehr!

Michael Brückner: Was war dein bisher kommerziell erfolgreichstes Album?

Mathias Grassow: Ganz klar mit Abstand die „El-Hadra“ mit Klaus Wiese. Ich kenne die genauen Verkaufszahlen nicht, aber 100.000 wären nicht übertrieben.

Michael Brückner: Wie ist heute – insbesondere im Hinblick auf die nun schon fast altbekannten Krise der Plattenindustrie – der Stand der Dinge für dich, in Punkto Veröffentlichung und Vertrieb?

Mathias Grassow: Es wird leider immer schlechter und frustrierender: Einerseits sind die Produktionskosten enorm gesunken; es wird aber auch viel weniger an CDs verkauft als früher. Momentan ist die erschreckende Wahrheit, dass 200er Auflagen durchaus genügen. Es wird dann auch nicht mehr nachgepresst. Durch bessere Promotion können sich im Laufe der Zeit auch mal 500 verkaufen, aber spätestens dann ist Schluss.

Michael Brückner: Du bist ein sehr fleissiger Musiker und dein Katalog umfasst eine beeindruckende Vielzahl von Alben. Könntest du für uns vier deiner Alben herausgreifen, die dir besonders viel bedeuten und kurz darstellen, was für dich diese Alben besonders auszeichnet?

Mathias Grassow: Vier? Hmmm, also die „Psychic Dome“ war schon was Besonderes, dann die „Ambience“ – der Titel ist Programm, und diese CD prägte auch viele Andere. Auch die „Himavat“ setzte Ende der 90er Standards. Im neuen Jahrtausend überschlugen sich die Ereignisse. Da kann ich schlecht ein Album herausgreifen. Momentan gefällt mir selber die „Harmonia Mundi“ sehr gut; ich brauche aber Zeit – mindestens 10 Jahre – um ein Album rückwirkend einstufen zu können. Verschiedene andere Alben hingegen würde ich heute nicht mehr machen.

Michael Brückner: Du hast auch viele Kollaborationen mit anderen Musikern gemacht. Kannst du für uns davon wiederum zwei oder drei Beispiele herausgreifen, die dir besonders in Erinnerung geblieben sind?

John Haughm und Mathias Grassow
John Haughm und Mathias Grassow

Mathias Grassow: Nun auf alle Fälle die „Arcanum“ mit Rüdiger Gleisberg und Amir Baghiri; dann die Alben mit John Haughm von Agalloch und die Werke mit Jim Cole.

Michael Brückner: Da du gerade Rüdiger Gleisberg erwähnst - vor Kurzem hast du "The House On The Borderland" von Nostalgia – ein Album, das eine Zeit lang, soweit ich weiß, nicht mehr erhältlich war – über Bandcamp wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sehr zu meiner Freude, da es tatsächlich eines meiner Lieblingsalben überhaupt ist und ich finde, dass es durchaus noch mehr Beachtung verdient! Vielleicht magst du uns bei dieser Gelegenheit kurz etwas über die Entstehung dieses Albums erzählen, bzw. auch über das Projekt "Nostalgia" – das ja, glaube ich, hauptsächlich eine Kooperation zwischen dir und dem Musiker und Komponisten Rüdiger Gleisberg ist, zu dem Ihr noch weitere (je nach Album wechselnde) Gastmusiker eingeladen habt. „The House on the Borderland“ ist ja die Vertonung einer klassischen Horror-Novelle (Das Haus an der Grenze, Wiliam Hope Hodgson, von 1908). Kanntest Du diese Geschichte schon vorher? Spannend wäre auch zu erfahren, ob es in Zukunft noch weitere Nostalgia-Alben geben wird.

Mathias Grassow: Die „House on the Borderland“ wäre damals, soweit ich mich entsinne, um ein Haar "Platte des Monats" im großen Goth-Magazin „Orkus“ geworden. Hätten wir einen guten Vertrieb gehabt und eine Plattenfirma, die eine Tour finanziert hätte, wäre das Album ein großer Erfolg geworden, denke ich.

Ganz vom Markt war sie nie, wenn ich die armselige EC-Zwischenveröffentlichung mit einrechne. Sie wird mittlerweile nur noch digital vertrieben und ist damit praktisch einem unbegrenztem Publikum zugänglich.

Ich muss an dieser Stelle präzisieren, dass Nostalgia zwar insgesamt hauptsächlich ein Gemeinschaftswerk von mir und Gleisberg sowie Carsten Agthe plus wechslenden Gastmusikern ist, aber bei diesem speziellen Album war der dritte Protagonist Luigi Seviroli der Hauptideengeber und Initiator. In diesem einen Falle haben Rüdiger und ich das Werk vervollständigt. Die Orchesterparts stammen hauptsächlich von Luigi, der das Gesamtkonzept für meine Begriffe kongenial umsetzte.

Zum Zeitpunkt der Entstehung war mir das Buch nicht bekannt, wohl aber der dramatisch-tragische Lebenslauf des Autors. „House on the Borderland“ war demnach ein 'Zufallstreffer', der unter Nostalgia veröffentlicht wurde, jedoch eigentlich ein Ausbruch aus dem Stil des ersten Albums war. Es gibt bislang insgesamt vier Alben; momentan ruht unser Projekt; wie lange weiß ich nicht. Wenn wir als richtige Band anerkannt werden und die Fans bedienen wollen, müssen wir touren, und dafür wohnen wir zu weit auseinander, haben Familien und wollen alle drei (Grassow, Gleisberg, Agthe) mit unseren zusammen über 150 Lenzen das nicht mehr auf uns nehmen. Nach der „House on the Borderland“ hätte ein gezielter Aufbau durch Produzenten, Plattenfirmen und Verlagen gestartet werden müssen, um im Gespräch zu bleiben. Nostalgia ist mittlerweile – außer bei Fans wie Dir – weitgehend in Vergessenheit geraten; das meine ich mit gezieltem Aufbau und Tournee. Das enttäuscht mich aber nicht; alle vier Alben haben ihren Weg gemacht und waren zum Zeitpunkt der Entstehung eine Freude.

Michael Brückner: Wie hast du Rüdiger kennengelernt?

Mathias Grassow: Vor mehr als 25 Jahren bei einer Geburtstagsfeier eines 'Fans' elektronischer Musik in Wiesbaden.

Michael Brückner: Was habt ihr schon alles zusammen gemacht?

Mathias Grassow: Außer einigen Gastauftritten Rüdigers auf meinen CDs "Expanding Horizon" und "Lanzarote Concert" nur Nostalgia.

Michael Brückner: Von wem ging die Initiative bei Nostalgia aus?

Mathias Grassow: Von mir.

Michael Brückner: Was ist dein persönliche Lieblingsalbum von diesem Projekt?

Mathias Grassow: Ebenfalls „House On The Borderland“, aber auch das erste, " Arcana Publicata Vilescunt " hat seine Reize und ist recht zeitlos.

Michael Brückner: Was kannst du über die anderen Gastmusiker sagen?

Mathias Grassow: Nun zu Rüdiger muss ich nicht viel sagen, Carsten Agthe ist auch immer mal wieder auf meinen CD's vertreten und Luigi Seviroli ist ein bekannter italiensicher Filmkomponist.

Vielleicht werden wir noch Poes "Untergang des Hause Usher " vertonen, aber das ist noch unsicher. „House on the Borderland“ sollte mit unserer Musik auch verfilmt werden, aber ich habe vom Regisseur nichts weiter gehört, außer dem üblichen Bla-Bla "Independent-Film, kein Geld und überhaupt ...". Wir werden sehen – es bleibt spannend!

Michael Brückner: Kannst du uns von zwei oder drei deiner Konzerte erzählen, die dir besonders im Gedächtnis geblieben sind?

Mathias Grassow: Also der Auftritt in San Sebastian war der Hammer: Organisation und Betreuung waren erstklassig! Ebenso das Lanzarote-Konzert – unvergesslich in Aufwand, Technik, Organisation und Professionalität.

Auch die Prag-Konzerte waren gut vorbereitet und organisiert. Nicht zu vergessen freilich der denkwürdige Auftritt bei Oöphoi 1999 – das war aber eher ein ‚private concert‘. Dort lernte ich u. a. auch Robert Rich und Alio Die kennen. Steve Roach kannte ich schon aus Paderborn, wo er mit Elmar Schulte als „Solitaire“ an diversen Alben bastelte.

Michael Brückner: Wann fanden die Konzerte in San Sebastian und Lanzarote genau statt, und wie hast du die Möglichkeit bekommen, daran teilzunehmen?

Mathias Grassow: Die Veranstalter meldeten sich bei mir. Ich war damals schon nicht unbekannt, und wer die Szene kannte und sich interessierte, kam an mir nicht vorbei … Ich erinnere mich aber auch an einen Fan aus dieser Zeit, der in Spanien Werbung machte. Leider lebt er nicht mehr. San Sebastian war 1993 und Lanzarote 1994.

Michael Brückner: Erinnerst du dich an Reaktionen, Leserbriefe oder Gespräche von bzw. mit deinen Hörern oder Konzertbesuchern, die dir viel bedeuten, oder die dir typisch oder anderweitig besonders erscheinen?

Mathias Grassow: Sicher, da gäbe es Vieles. Hervorheben möchte ich, dass ich doch erstaunt war, wie verblüfft, ja sogar abweisend Fans sein können, wenn Du Dich nicht als Star, sondern als Mensch zeigst. Das verwirrt viele. Sie wollen eine Ikone sehen. Du bist stets nur Deine Musik. Das hat mich traurig gemacht. Ich verstand von da an, wie einsam echte Stars sind, obgleich jeder so sein will, wie sie.

Leserbriefe und Rezensionen sind über die vielen Jahre so viele geworden, dass ich aufgehört habe zu sammeln und mich zu erinnern. Verletzt hat mich mal eine bodenlos niederschmetternde und persönlich beleidigende Rezension, die mich noch im Schlaf verfolgte. Ich hätte zuvor nicht gedacht, dass mir so etwas so viel ausmachen könnte. Das hatte sich dann aber später geklärt. Es gab hier und da ergreifende Briefe oder Mails von Menschen, die mit meiner Musik einen Durchbruch erlebten oder deren chronische Krankheiten sich erheblich besserten; das Gros der Hörer jedoch sind Jäger und Sammler, die eben ihrer Leidenschaft frönen. Warum auch nicht? Aber jedes : „Du bist der Beste!“ und „Weiter so“ ermutigt mich!

Michael Brückner: Klaus Wiese ist ein Ambient-Musiker, dessen Namen ich zwar schon hin und wieder begegnet bin, über den ich aber noch nicht sehr viel weiß. Möchtest du uns kurz etwas über ihn erzählen? Wo hast du ihn kennengelernt und wie hat sich dann eure Zusammenarbeit ergeben? Hattet ihr über euer gemeinsames Musikprojekt hinaus noch weiteren Kontakt? Und kanntest du seine Musik schon vorher – wenn ja, war sie ein wichtiger Einfluss für Dich?

Mathias Grassow: Der Kosmos von Klaus Wiese ist zu umfangreich, um in ein paar Zeilen unsere gemeinsamen 22 Jahre abzuarbeiten. Alleine schon der Begriff „Ambient-Musiker“ trifft ihn und sein Wesen nicht.

Er war Weltmusiker, sehr fernöstlich geprägt, Sufi – und Musik gegenüber gleichmütig eingestellt. So präzise, wie er mit Klängen arbeitete, so nachlässig war er mit Promotion, Vertrieb und Eigenmanagement. Manchmal waren seine Wege geheimnsivoll und erschlossen sich nicht. Kein Ziel, nur der Augenblick zählte … in einem Moment war es die Musik, dann wieder Fotografie oder einfach nur stundenlang sitzen und Tee trinken. Wir hatten mehrere Alben zusammen gemacht und benutzten unsere Klänge, die jeder zur Verfügung hatte. Die Popol Vuh-Mitgliedschaft war eher eine Art Kommune, in der sie zusammenlebten und er war eben mit auf dem Bild – so seine Worte. In der Love & Peace-Zeit war eben jeder dabei, der irgendwie mal reinschaute. Einfluss hatte sein Musik auf mich, oh ja!

Zusammen mit Hamel war und ist Klaus Wiese mein Haupteinfluss. Ich lernte ihn über den Aquamarin-Verlag in München so um 1987 kennen, weil wir beide dort verlegten und fasziniert von der jeweiligen Musik des Kollegen waren.

Michael Brückner: Bei Popol Vuh muss ich auch an Alois Gromer (aka Al Gromer Khan) denken, den man sicherlich auch der "Münchner Schule" zurechnen kann. Kennst du ihn, und habt ihr womöglich auch schon einmal Musik zusammen gemacht?

Mathias Grassow: Ja, ich kenne ihn persönlich von mehreren Treffen, aber es kam nie zu einer musikalischen Zusammenarbeit.

Michael Brückner: An anderer Stelle nennst du Klaus Wiese "meinen Sufi-Mentor" – heißt das, dass ihr auch über die Musik hinaus (persönlich) auf spirituellem Gebiet in Kontakt bzw. Dialog wart? Oder war es eher so, dass du durch Klaus' Musik hier Anregungen empfangen hast?

Mathias Grassow: Ja, wir hatten durchaus ein bis zwei Mal im Jahr Kontakt in München, wo ich viel erlernte, aber das war nie so definiert. Was er mir beibrachte, ging über die Musik weit hinaus; es waren Lebenslehren, das Wichtige im Unwichtigen sehen, Gelassenheit und Gleichmut … Es war eine tolle Zeit mit ihm; die Musik letztlich nur der Träger für tiefere spirituelle Lehren.

Michael Brückner: Du bist ja nun seit drei Jahrzehnten musikalisch Aktiv und hast in dieser Zeit viele Veränderungen deiner Art von Musik miterlebt. In dieser Zeit hast du auch Kontakt zu anderen Künstlern gehabt, ebenso zu Plattenfirmen, Magazinen, Konzertveranstaltern, Fans usw. – wie stellt sich diese Entwicklung, insbesondere im Hinblick auf, sagen wir, die "Szene", Gruppenzusammengehörigkeit, Gemeinschaftsgefühl usw. dar? Besteht ein großer Unterschied zwischen, sagen wir, ca. 1989 und heute? Oder ist alles mehr oder weniger gleich gelieben, und nur die Genrenamen etc. haben sich verändert?

Mathias Grassow: Nun, ich zitiere meinen Freund Peter Michael Hamel an dieser Stelle: „Es gibt nur EINE Frau Musica, mit der ich liiert bin“. Die Genreunterscheide schaffen Andere, und besonders in unseren Gefilden werden sehr gerne Schubladen bedient. Es hat sich weniger geändert, als es zunächst den Anschein hat. Immer wieder neuer Wein aus alten Schläuchen (oder wahlweise anders herum). Sicher gab es Kontrapunkte in der Entwicklung, und der jeweils zeitgenössische Entdeckergeist veränderte den Schwerpunkt. Keine Richtung hatte eine „Von - Bis“ Zeit, das wird alles künstlich gemacht und katalogisiert. Es existiert alles gleichzeitig – nur der Schwerpunkt der Wahrnehmung verlagert sich. Ein Gemeinschaftsgefühl gab es nicht wirklich. Das wird alles oft verklärt und romantisiert – ebenso wie auch ich gerne die 60er und frühen 70er idealisiere.

Michael Brückner: Es hat den Anschein, dass eine nie dagewesene Menge an Menschen elektronische Musik, speziell auch Ambient, produzieren. Dein amerikanischer Kollege Robert Rich sagte dazu in einem Interview recht anschaulich "Everyone is pollywog in the puddle now" (wir sind nun alle Kaulquappen in der Pfütze). Gerade für Musiker, die zu einem bestimmten Zeitpunkt mit ihrer Musik auch einen gewissen wirtschaftlichen Erfolg hatten, muss das eine schwierige, jedenfalls zweischneidige Situation sein. Wie denkst du darüber? Erlebst du die zunehmende Zahl an Ambient-Veröffentlichungen als wirtschaftliche, oder künstlerische, Bedrohung? Siehst du deine eigene Arbeit dadurch entwertet? Oder ist es in gewissem Sinn auch eine Bestätigung insofern, dass es doch weltweit viele Menschen gibt, die sich mit dieser Musik intensiv beschäftigen?

Welche Auswirkungen hatte die Entwicklung seit dem Aufkommen des Internets auf deine Arbeit?

Mathias Grassow: Alleine diese Frage wirft einen großen Diskurs auf.

Als Bedrohung sehe ich keinen der ‚Kollegen‘ – mich ärgert allenfalls, dass es etliche Musiker gibt, die meinen, Ambient mal so nebenher als ‚side project‘ machen zu können, um auch das abzuhaken. Der ‚Anspruch‘ hier liegt weniger in der Virtuosiät und teuren Geräten, als vielmehr in einer Art ‚spirituellen Fühlens‘ und der Notwendigkeit, Drones zu nutzen, um tiefe innere Einblicke in uns und das Universum zu bekommen. Das mag arg idealistisch klingen und soll es ruhig auch. Ambient und besonders Drones sind keine Unterhaltung, auch kein Mittel, um sich wegzuschießen, sondern tiefe innere Arbeit, an der ich mein Publikum teilhaben lassen möchte.

Als eine massive Entwertung empfinde ich eher, dass ich z. B. Musik in Bandcamp hochstelle und damit dem Fan einen gewissen Luxus biete. Jedes Stück kann komplett angehört werden, bevor sich der Ehrliche zum Kauf entscheidet und dann wirklich auch einen ‚Wert für sein Geld‘ bekommt. Dann gibt es aber diese zwielichtigen ‚Bandcamp Downloader‘-Programme, die ganz frech z. B. über Computer-Bild angeboten werden (kostenloses Shareware-Programm, um Songs aus Bandcamp zu rippen). Das finde ich kriminell und dagegen sollte vorgegangen werden.

Ich freue mich, wenn man heute für wenig Geld gute Musik machen kann. Elektronisches Equipment kostet nur noch ein Bruchteil dessen, was man vor 30 Jahren dafür noch auf den Tisch legen musste! Auch dass jeder Talentierte sich und seine Musik rasch weltweit präsentieren kann, ist eine schöne Entwicklung. Die bitteren Auswüchse sind das krankhafte Jagen und Sammeln von digitalisierter Musik, die sich immer mehr von Qualität zu identitätsloser Masse entwickelt und den Markt regelrecht zumüllt; das betrifft aber nicht nur Ambient.

Wirtschaftlicher Erfolg ist relativ und jedes Genre unterliegt Höhen und Tiefen. Es ist allerdings auch nicht zu schaffen, sich selbst in jedem Bereich von der Musik über die Studiotechnik und bishin zur kompletten Vermarktung selbst zu coachen. Ich habe ausser der Musik ja auch einen Beruf, und neben dem Job auch alle Aspekte der Musik perfekt zu managen, ist nicht zu bewältigen.

Michael Brückner: Das ist – oder war – ja das große Versprechen des Internets: dass jeder Kreative alleine – ohne Plattenfirma oder Verlag etc. – seine Kunst vermarkten und erfolgreich werden kann. Wie du auch schreibst aber offenbar für die meisten doch eine überfordernde Freiheit. Insofern scheint die Arbeitsteilung der Plattenindustrie doch Sinn gemacht zu haben: der Musiker komponiert und spielt die Musik ein, der Audio-Techniker nimmt sie in guter Qualität auf, der Produzent mischt und mastert sie, das Management kümmert sich um die Werbung und die Organistation von Konzerten, es gibt einen Vertrieb usw. Vielleicht hatte in so einem Setting der Künstler doch eher die Chance, sich auf sein "Kerngeschäft" – eben die Musik – zu konzentrieren, sofern er eben das Glück hatte, einen Plattenvertrag zu bekommen. Wobei sich dann offenbar doch viele Künstler wiederum als Sklaven ihrer Labels gesehen haben. Eine komplexe Situation. Wenn du es dir heute wünschen könntest, was wären für dich die Idealbedingungen, um als Musiker und Komponist aktiv zu sein und künstlerisch die besten Ergebnisse zu erzielen?

Mathias Grassow: Ganz klar eine Teilung der Arbeit mit Personen, denen ich vertrauen kann. Dass Labels nur Sklavenhalter sind, ist Blödsinn. Independent-Labels lassen ihren Künstlern viele Freiheiten; andererseits, wer die Kommerzschiene fährt, will eben Erfolg haben – mit allem, was dazugehört, also auch den Schattenseiten.

Erfolge hatte ich mit El-Hadra, und der Rapper „Drake“ hat in seinem Millionen-Hit „ Started from the Bottom“ ein Stück von mir und Bruno Sanfilippo für diesen Erfolgssong gesampelt. Erfolg heisst auch, mit Schattenseiten umgehen zu können. Für beide „Erfolge“ ist allerdings nie Geld gezahlt worden.

Michael Brückner: Du erwähntest vorhin kurz deinen Brotberuf – in welchem Beruf arbeitest du?

Mathias Grassow: Ich bin kaufmänischer Angestellter – seit 32 Jahren.

Michael Brückner: Macht dir dieser Beruf ähnlich viel Freude wie die Musik, d. h. sind es für dich zwei gleichberechtigte Interessensfelder, oder ist es eher so, dass dein Herz für die Musik schlägt, der Beruf aber ein notwendiges Mittel darstellt?

Mathias Grassow: Eher ein notwendiges Mittel, aber auch hier ändert sich meine Wahrnehmung. Das Leben ist Alltag und meine eigene innere Entwicklung spiegelt sich wider im Umgang mit Menschen eben darin.

Es ist eine Wechselwirkung; und eine Resonanz zu fühlen, das ist schön! Ich bin keineswegs der introvertierte Eigenbrötler, der bei zugezogenen Vorhängen im Studio ‚drönt‘. Ich bin glücklich, dass u. a. mein Beruf mich vor anhaltender Isolation bewahrt hat. Hier gibt es so viele ‚normale‘ Menschen mit Herz und Verstand; Musiker sind nicht die besseren Menschen …

Michael Brückner: Du hast ja auch Familie, und aus eigener Erfahrung weiß ich, dass das manchmal mit dem intensiven Künstlerdasein nicht leicht zu vereinbaren ist. Wie waren bzw. sind da deine Erfahrungen?

Mathias Grassow: Kann ich nicht unterschreiben. Meine kreativste Zeit und die besten Stücken sind inmitten des ‚Familienstresses‘ entstanden! Es gibt keinerlei Formeln und Voraussetzungen, wann der Nährboden für gute Musik am Besten bereitet ist. Wenn ich eine Botschaft habe, ist sie so simpel, dass sie kaum wahrgenommen oder für Ernst empfunden wird. Der Musenkuss orientiert sich nicht an unserem Alltag.

Michael Brückner: Ich würde auch noch kurz gerne auf den technischen Aspekt der Produktion deiner Musik eingehen – kannst du uns eine kurze Übersicht geben, welche (Haupt-)Klangerzeuger und (falls von Bedeutung) andere Werkzeuge du über die Jahre verwendet hast?

Mathias Grassow: Oha! Das waren so viele, dass ich mich kaum erinnere: Begonnen hat alles mit einem Roland SH-2000, dann folgte die komplette Korg MS-Serie, später spielte ich fast alles mit Rang und Namen: Memorymoog, Rhodes Chroma, Oberheim XPander, die Jupiter-Reihe, Hartmann Neuron, Sequential T-8 usw. Am kreativsten konnte ich tatsächlich mit dem Neuron arbeiten, den geilsten Sound hatte der T-8 – meine erste CD-Veröffentlichung „Prophecy“ entstand größtenteils damit. Alle anderen Tools, wie Grooveboxen, Effektgeräte und auch Software waren so umfangreich, dass ich sie hier nicht auflisten kann, und ich finde das im Detail auch nicht so wichtig.

Michael Brückner: Ist deine Arbeitsweise im Laufe der Jahre mehr oder weniger gleich geblieben, oder hat sie sich durch die Evolution der elektronischen Geräte stark geändert?

Mathias Grassow: Sie hat sich stark geändert. Ich arbeite seit ca. zehn Jahren viel reduzierter und mische mehr bereits vorhandene Basic-Tracks, als dass ich Neues schaffe. Ich hatte mir nach 2010 einige Dave Smith-Geräte gekauft und fand darin wenig Inspirierendes, was nichts über die Qualität dieser tollen Geräte aussagt, mir aber zeigt, dass ich neue und andere Wege gehen soll. Sie werden langsam offenkundig. Mehr möchte ich an dieser Stelle noch nicht preisgeben. 

Michael Brückner: Kannst du uns deine spezielle Arbeitsweise näher erläutern?

Mathias Grassow: Meine sicher sehr untypische Arbeitsweise ist wie ein gutes Rezept. Die kann und will ich nicht in einem Interview darlegen – und damit preisgeben. Sie ist sehr simpel, trotzdem kaum darstellbar und gleicht am ehesten einer Art Partitur, die über Jahre entsteht und letztlich im intuitiven Mischen ein Stück vollendet.

Es geschieht vieles ‚zufällig‘, teils, wenn ich gar nicht im Raum bin und ich FÜHLE, wenn ein Drone Magie hat.

Mag es eine Gabe sein oder nicht, das ist irrelevant und das möchte ich auch nicht diskutiert wissen. Es gibt Künstler, die mich berühren, bei anderen möchte ich sagen: „Lass es sein … Dir fehlt die Wahrnehmung für die erforderliche Tiefe.“ Da das sehr rasch anmaßend klingen kann und ich eben nicht ‚Songs von A nach B konstruiere‘, erklärt sich, weshalb ich mich bezüglich Erläuterung des Entstehungsprozess so zurückhalte. Vielleicht habe ich mich hier schon zu weit aus dem Fenster gelehnt.

Michael Brückner: Ist für dich die Ästhetik deiner Musik notwendig an die elektronische Klangerzeugung gekoppelt, oder könntest du dir vorstellen, auch mit – sagen wir – Chor, Kirchenorgel, Streichorchester und Tamboura eine in der Wirkung ähnliche Musik ohne Elektronik zu erzeugen?

Mathias Grassow: Das habe ich bereits gemacht – besonders in den späten 80ern. Da gab es ganze Kassetten (jawoll) mit ausschließlich Gong, Klangschalen, Zither, Taboura, Harmonium und Oberton-Gesangsaufnahmen (lernte ich 1987 in Italien). Die sind rührig und teils schrullig, haben aber ihren Reiz. Einiges davon fand in einer anderen Mischung auch auf späteren CDs seinen Niederschlag, z. B. den beiden „Tiefweite Stille“-Alben auf ‚Practising nature‘ von DATABLOEM aus Holland.

Mathias Grassow

Michael Brückner: Nachdem wir uns ausführlich über die "Äusserlichkeiten" des Musikerlebens unterhalten haben, wollen wir nun versuchen, die Tiefen, Höhen und endlosen Weiten auszuloten, die der spirituelle Aspekt der Musik (oder des Lebens überhaupt) eröffnet - sofern Worte dorthin vordringen können.

Wenn wir darüber sprechen, ist "spirituell" der passende Begriff für dich? Siehst du dich als spirituellen Menschen? Oder erscheint dir eine andere Bezeichnung passender?

Mathias Grassow: Hmmm, also ich möchte nicht mit irgendwelchen Floskeln und all diesen anderen Zeiterscheinungen jonglieren … Spirituell ja, aber nicht im marktschreierischen Sinne der „Kerzen auf der Badewannen-Wohlfühl-Esoterik“. Innere Arbeit ist ein schmerzhafter Prozess, er raubt Dir restlos alle Illusionen und erforscht in aller Tiefe, wer Du wirklich bist. Ich beantworte Deine Frage also mit „Ja“, ohne mich momentan weiter erklären zu wollen.

Michael Brückner: Hattest du, als Kind oder Jugendlicher, schon ein Interesse an Religion, Philosophie bzw. Psychologie oder seelischer Heilung, bevor du (z. B. bei Hamel oder anderen) Musik kennengelernt hast, die solche Bereiche anspricht oder zum Ausdruck bringt? Oder hat sich dieses Interesse sozusagen Hand in Hand mit deiner Beschäftigung mit dieser Musik und in Ausübung deiner eigenen Musik entwickelt?

Mathias Grassow: Als Kind hatte ich allenfalls das Gefühl, ‚anders‘ zu sein. Schule war mir zuwider, mich interessierte weder stures Lernen nach Lehrplan, noch etwas nachzueifern, weil es alle machten und es ‚schon immer’ so war. Ich war eher ein schüchterner Querulant, lebte das aber in meinem Inneren aus. Ich war kein Rebell oder Aufsässiger. So war mir Punk und seine damaligen Gegenspieler, die Popper, gleichsam zuwider. Ich floh lieber in meine Welt aus Roger Dean (u. a. YES-Cover-Gestalter) und den entsprechenden Bands dieser Zeit.

Klaus Schulze entsprach meinen romantischen Vorstellungen weit mehr, als eben politische Radikale und deren Musik. Obwohl … die ‚Proletenpassion‘ der Schmetterlinge faszinierte mich – ebenso wie auch Ton Steine Scherben. Das Interesse an Religionsphilosophie kam in erster Linie durch meine Liebe zu Fantasy-Groschenromanen zustande. Die tolle „Macabros“-Serie des legendären Dan Shocker war einer der Schlüssel – sehr rasch dann freilich auch die Musik von Deuter, Hamel, Popol Vuh, Stephan Micus … Nicht unbedingt die hiesige Berliner Schule; die war zwar gut zum Träumen und Entfliehen aus dem Schulalltag, aber nichts für spirituelle Bildung; deshalb war mir die sogenannte Münchner Schule immer näher. Musik und Literatur halfen mir, mein ‚Anderssein‘ besser zu verstehen und zu verinnerlichen; ich kann aber nicht sagen, dass es EIN Schlüsselerlebnis war, was mich schon früh dahin katapultierte. Mit 16 las ich bereits das Totenbuch der Tibeter und die Upanishaden. Das war bestimmt außergewöhnlich, aber auch eine Flucht.

Michael Brückner: Also gab es für dich keine Art von "spirituellem Erweckungserlebnis", dass diesen Bereich für dich sozusagen mit einem Paukenschlag zum Thema gemacht hat, sondern dein Interesse hat sich still und allmählich herauskristallisiert?

Mathias Grassow: Nein, das gab es nicht, aber es gab durchaus wichtige Eckpunkte:

Angefangen von Deuter und den tollen Osho-Sprüchen auf seinen Platten (seine „Aum“ entstand übrigens mit Klaus Wiese zusammen – wie gesagt später mein Sufi-Mentor über viele Jahre) über (Schul-)Literatur („Das Gold von Caxamalca“ von Jakob Wassermann) bis hin zu einem der wichtigsten Schlüssel 1981, als mir ein Freund, der im hiesigen „Synthesizerstudio Jacob“ in Wiesbaden arbeitete, an EINEM Tag Timothy Leary, Alan Watts und all die Ikonen der wilden 60er nahebrachte und mir dazu noch die LP (!) „The Voice of Silence“ von Peter Michael Hamel auslieh, die für mich Türen sprengte.

Ich habe bis heute selten eine intensivere Platte mit einer eindringlicheren spirituellen Botschaft gehört. Diesen Tag werde ich nie vergessen und immer als Meilenstein in meinem Leben betrachten. Danach geschah noch sehr viel, auch Ernüchterndes … Vielleicht sollte ich bald meine Autobiografie schreiben? 

Michael Brückner: Eine Biografie wäre sicher interessant! Ich persönlich finde auch – oder gerade – bei dem Themenkomplex "Spiritualität" die ernüchternden Momente besonders spannend. In deinem Fall auch insofern, als dass du dich ja dennoch offenbar dadurch letztlich nicht von der Spiritualität abgewendet hast. Als junger Mensch ist es – denke ich – leicht, für spirituelle Ideen zu schwärmen, aber eine Frage, die mich auch persönlich beschäftigt, ist: wie bleibe ich auf dem Weg, auch wenn sich das Leben als schwieriger, komplexer und vielleicht auch spröder und weniger romantisch erweist, als ich das erwartet habe?

Mathias Grassow: Nun, die Entwicklung der Spiritualität ist gleichsam etwas sehr Intimes, wie auch etwas, was man teilen sollte. Leider gibt es hier rasch Polarisierungen und Missverständnisse, besonders wenn es um Lebenslehren geht, die über das Persönliche hinausgehen, universell sind und sich durchaus klassischer Muster bedienen, ohne diese zu missbrauchen - wie etwa einen Lehrer zu haben, Glauben und Religion per se in Frage zu stellen und damit u. a. auch die Grundlage dessen zu nehmen, was unsere Konditionen sind und was uns steuert.

Ernüchternd sind hier die Momente, die an deinem Fundament rütteln und teils nicht greifbar und fassbar sind, Momente, die eine gefühlte Wahrheit offenbaren und dich wirklich grundlegend in Frage stellen. Das ist hart und essentiell, aber es muss nicht unbedingt ein Abwenden geben, wenn es ‚zu heiß‘ wird.

Gerade dann sollten wir Türen durchschreiten und bewusst der Angst begegnen, um uns zu transformieren.

Es ist am Ende nicht wichtig, DASS wir sterben, sondern WIE wir sterben. Ersteres ist eine unumstößliche Tatsache, das Zweite hingegen können wir steuern.

Michael Brückner: Kannst du kurz umreißen, was genau Musik im Bereich von Heilung oder Spiritualität deiner Meinung nach vermag? Und ob das Wirkungen sind, die Musik bzw. Klang generell hat, oder ob der Hörer eine bestimmte Empfänglichkeit dafür mitbringen muss?

Mathias Grassow: Diese Frage kann ich nicht in wenigen Sätzen beantworten. Ich denke aber, dass Musik ein sehr wichtiger Schlüssel zur Heilung sein kann, da sie Schwingung ist und wir zu rund 60% aus Wasser bestehen.

Da wir aber nur gewohnt sind, Musik über die Ohren wahrzunehmen, filtert das Gehirn und versucht die Musik einzuordnen, zu verstehen, zu kategorisieren und zu katalogisieren. Das, was Musik vollbringen könnte, ist in unserem Bewusstsein tief verankert, aber verschüttet, oder in der DNA (noch) nicht freigeschaltet. Das ehrwürdige indische Nada-Yoga, wie es auch von Hamel in seinem Buch erwähnt wird, propagiert die Suche nach dem ureigenen inneren Klang und die Resonanz darauf. Das ‚Tönen‘ der Drones kommt dem am Nächsten – ist gleichsam Weg und Ziel zugleich. Am Ende löst sich alles im Nichts auf. Die ‚Magnificent Void‘ ist die Abwesenheit jeglicher Emotionen und Gefühle. Gott ist NICHTS.

Michael Brückner: Kannst du uns von einem Erlebnis berichten, das dir – beim Hören von Musik, beim Arbeiten an Musik oder bei deinen Konzerten – diese Dimension in der Musik, oder die diesbezügliche Potenz von Musik, besonders deutlich nahe gebracht hat?

Mathias Grassow: Ganz sicher „The Voice of Silence“ von Hamel, ebenso „Bardo“, „Apotheosis“ und „Organum“, dann die „Hearing Solar Winds“ von David Hykes, „Baraka“, „Maraccaba“ „Uranus“ von Klaus Wiese, um nur einige zu nennen. Musik und die Verbindung mit z. B. bewusstseinserweiternden Substanzen kann in einer optimalen Kombination sicher Türen öffnen – hindurchgehen muss man aber selbst, und nicht alles ist für jeden bestimmt. Deshalb hier an dieser Stelle auch eine eindringliche Warnung von beliebigem Drogenkonsum.

Michael Brückner: Es gibt ja bestimmte Musik, in der spirituelle bzw. religiöse Erfahrungen traditionell ausdrücklich thematisiert werden: einmal in dem Sinn, dass es Musik über solche Themen ist (auf der inhaltlichen Ebene), aber auch Musik, die als Werkzeug dienen soll, um bestimmte meditative oder anderweitig spirituell oder religiös bedeutsame Bewusstseinszustände zu vermitteln. In der Regel auch mit dem Ziel, die Beteiligten zu erheben und möglicherweise seelisch oder gar körperlich zu heilen oder zu läutern. Da ist auf der einen Seite die Kirchenmusik der europäischen Tradition, auf der anderen vor allem Formen von aussereuropäischer Musik, die z. B. Peter Michael Hamel, aber auch andere (Behrendt etc.) für bedeutungsvoll und heilsam halten – wie schamanische Musik, (klassische) indische Musik, tibetische Musik, Musik aus Nordafrika und dem mittleren Osten (insbesondere Sufi-Musik) oder Gamelan-Musik aus Java. Oder auch in gewissem Sinn die psychedelische Musik der späten 60er / frühen 70er, oder Trance Techno in den 90ern.

Wie wichtig war oder ist für dich die Beschäftigung mit solcher Musik – insbesondere in Hinblick auf deine eigene Arbeit?

Mathias Grassow: Extrem wichtig, damals wie heute. Ohne den Background, den ich mir angeeignet habe, würde meine Musik nicht so klingen, wie sie klingt. Ich habe stets versucht, zu allen Richtungen einen Zugang zu bekommen. Am meisten verschlossen blieb mir leider bis heute der Jazz. Die Jazzkapitel habe ich in Behrendts Büchern größtenteils nur überflogen.

So ist es eben; aber ich kann eine Musikrichtung auch durchaus schätzen, ohne dass sie mir gefällt.

Michael Brückner: Siehst du dich mit solcher Musik in einer gemeinsamen Tradition (nicht unbedingt bezüglich der genauen Formen, sondern eher Absicht und Wirkung)? Wenn ja, wie drückt sich das in deiner Musik aus? Oder siehst du deinen eigenen Weg eher parallel?

Mathias Grassow: Ganz sicher wollte und will ich in der Musik mehr sehen, als nur ihren ‚Unterhaltungswert‘. Ich bin eben bei den Drones gelandet – es hätte durch eine andere Verkettung von Umständen, einen anderen Lebensweg auch Rock oder Klassik sein können. Parallel ist der Weg sicher auch, aber insbesondere fortführend. Ich entsinne mich, dass ich das, was Klaus Schulze bis etwa 1980 machte, unbedingt für mich ‚erweitern‘ und ‚präzisieren‘ wollte, denn als er mit „Dig It“ und diesem GDS-Computer etc. anfing, war für mich der ‚Spirit‘ verschwunden. Tatsächlich war das einer DER Gründe, weshalb ich selbst mit der Musik anfing!

Wie sich das ausdrückt, kann ich nicht beschreiben, dann würde ich eine Wissenschaft daraus machen.

Wer Ohren hat, der höre!

Michael Brückner: Was sind für dich Elemente in der Musik, die eine besonders spirituelle oder meditative oder heilsame Wirkung ermöglichen? Versuchst du diese Elemente bewusst einzusetzen – im Sinne einer Vorplanung, bevor die eigentliche Musik entsteht – oder lässt du dich von deiner Intuition leiten und beurteilst erst nach einer Aufnahme, ob ein bestimmtes Stück von dir eine entsprechende Wirkung entfaltet?

Mathias GrassowMathias Grassow: Ich habe es für mich aufgegeben, eine ‚Formel‘ finden zu wollen oder nach dem Stein der Weisen zu suchen. Gerade in den letzten Jahren hatte ich Krisen, aber auch Impulse … “Wozu das alles, klingt immer gleich, wird nur konsumiert und nicht wirklich verstanden“ und so fort. Ich höre in mich hinein, wohin das Ganze gehen will und würde diese Musik gerne viel intensiver mit anderen Künsten verbinden, oder auch medizinisch gezielter forschen und Klänge einsetzen. Mich hat stets verwundert, dass im gesamten Esoterik-Umfeld außer Klangschalen-Kling-Klang und Om Shanti-Gesängen die Musik im Grunde ein Schattendasein fristet. Ich glaube fest an die Kraft, die dem Nada-Yoga zugeschrieben wird und an die ‚verloren gegangene und vergessen‘ Kraft der alten indischen Meister, die Wetter beeinflussen und Tiere bändigen konnten.

Dass das oder Ähnliches funktioniert, durfte ich bei drei ergreifenden Konzerte erleben (Oha, ja - das waren auch essentielle Schlüsselerlebnisse!): 1987, Kunsthalle Schirn in Frankfurt: Pandit Pran Nath (indischer Dhrupad-Gesang im Kirana-Stil) – mit Terry Riley an der Tambura. Dann zweimal Nusrat Fateh Ali Khan in den frühen 90ern. ALLE drei Konzerte waren von einer Magie umgeben, die ich nie wieder erlebt habe und die mich die möglich Kraft von Klängen und Schwingungen stärker fühlen liess, als alle Platten, die ich je besaß und besitze!

Michael Brückner: Hattest du den Eindruck, die diesbezügliche "Kraft" der Musik "bei der Arbeit" beobachten zu können (vielleicht weil sich die Atmosphäre während eines Konzertes spürbar verändert hat) oder ist es eher ein Vorgang, der, wenn er geschieht, nur für den jeweiligen Hörer erfahrbar ist und sich zunächst nicht äusserlich zeigt?

Mathias Grassow: Also, bei den drei genannten Konzerten veränderte sich alles: Raum, Zeit, Wetter und Wahrnehmung. Das war wie eine Droge. Natürlich erfordert so ein Event eine grundsätzliche Bereitschaft, sich einzulassen, Offenheit und eine generelle Liebe zur Musik. Es vermischen sich kollektive Erlebnisse, die an die persönliche Biografie andocken.

Insofern waren die Erlebnisse stets höchst individuell, aber gleichzeitig auch kollektiv.

Nehmen wir z. B. Pink Floyd: In den 70ern galt jede Platte als wegweisend, und wenn wir den technischen Aspekt mal weglassen, bleiben Songs zurück, die sicher ihren Wert haben; aber es gibt heute Bands, die Pink Floyd locker das Wasser reichen könnten, die jedoch kaum wahrgenommen werden.

In den 70ern hingegen trafen Pink Floyd und besonders Waters den Zeitgeist; Waters hat Pink Floyd genutzt, um seinem immer fehlenden Vater nachzutrauern und seine schwierige Schulzeit öffentlich zu verarbeiten. Da war jemand zur richtigen Zeit mit der richtigen Musik am richtigen Ort, wie viele andere auch. Es gab ein kollektives Andocken und zugleich wurde die persönliche Geschichte angetriggert. Jeder fand sich irgendwie in ‚Wish You Were Here‘ oder auch ‚Another Brick in the Wall‘ wieder.

Das finde ich heute in der Musik SO intensiv nicht mehr wieder, obgleich es immer noch, oder auch immer wieder, Ergreifendes gibt.

Michael Brückner: Bist du der Meinung, dass Musik oder Klang, um solche Wirkungen zu vermitteln, idealerweise in einer dafür günstigen Umgebung gehört und erlebt werden sollte? Ist dafür ein Konzert besser geeignet,oder das aufmerksame "private" Hören zuhause? Legst du in deinen Konzerten Wert darauf, auch abgesehen von der eigentlichen Musik einen geeigneten Rahmen zu schaffen, und wenn ja: Wie?

Mathias Grassow: Ich versuche nicht aktiv, solche Wirkungen zu vermitteln, denn ‚es‘ passiert einfach. Das kann überall sein und entzieht sich meinem Einflussbereich. Ich freue mich natürlich, wenn ein Konzertangebot kommt, das ein außergewöhnliches Ambiente verspricht, aber nichts ist ein Garant für ‚die Wirkung‘. Ich kann nur vorbereiten und den Raum schaffen; betreten werden muss er von ‚Willigen‘ und dann durch Resonanz und Interaktion aufgebaut und gehalten werden. Ich versuche, sowohl auf CD wie auch live, den Hörern nicht nur Musik zu vermitteln, sondern auch Geist.

Michael Brückner: Neben der religiös gefärbten Betrachtungsweise gibt es auch Ansätze, die die heilende oder bewusstseinsbeeinflussende Wirkung von Musik eher mit wissenschaftlichen, z. B. physikalischen Überlegungen begründen. Die (vereinfacht gesagt) davon ausgehen, dass letzendlich das Universum aus Schwingungen aufgebaut ist, die sich gegenseitig beeinflussen, weshalb Musik – als Kunstform, die in besonders direkter Weise ein bewusstes Gestalten von Schwingungen ist – besonders geeignet sei, gerade auch die besonderen Schwingungen, die den menschlichen Körper und Geist konstituieren, positiv zu beeinflussen. Ich denke dabei insbesondere an die Tradition der Harmoniker (Pythagoras, Kepler, Kayser, Cousto) oder die Befürworter der Stimmung auf den Kammerton von 432 Hertz.

Was ist deine Meinung zu dieser eher wissenschaftlichen Betrachtungsweise?

Mathias Grassow: Nun, es hat alles seine Daseinsberechtigung. Ich persönlich kann mit dem ganzen Planetenkram und dementsprechend gestimmten Gongs usw. nicht so viel anfangen; auch nicht mit irgendwelchen komplexen Berechnungen aufgrund der so allgemeingültigen mathematischen Gesetze, an die ich in dieser Form nicht wirklich glaube. Manchmal denke ich, der ‚wissenschaftliche‘ Zweig ist so etwas wie die legitime Foschung, der legale Zweig der ‚Drogengurus‘, die eigene und tiefe Erfahrungen machten, dies aber nicht mehr so propagieren können wie in den 60ern. Da alle Erfahrung immer eine Mischung zwischen kollektivem Bewusstsein und der eigenen Biografie ist, gibt es auch nicht DAS Buch über Musik, oder DAS Stück, DEN Stil etc. Meine Drones sind vielleicht ‚kosmische Downloads‘, die irgendeine Botschaft beinhalten, die allerdings – nur mit dem Ohr erfasst – nicht die Kraft haben kann, unsere DNA zu ändern, sodass der Weg frei ist für tiefere Erfahrungen unseres Seins. Wir haben durch solche Musik allenfalls eine Ahnung, wer wir sind und wo unser Zuhause ist. Das wirft sicher einen Diskurs auf, aber ich glaube fest daran, dass wir Musik, wenn der ‚Ohrkanal‘ – dessen Chef stets das Gehirn mit all seinen Bewertungen und Einordnungen ist – umgangen wird, auf einer Ebene wahrnehmen könnten, die sich noch keiner so recht vorstellen kann, z. B. Raum und Zeit relativieren, Fühlen der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, usw.

Michael Brückner: Wäre es für dich vorstellbar, die Wirkung von Musik bzw. Klang zu "objektivieren", d. h. bestimmten Rhythmen oder Tonhöhen, oder Kombination davon, bestimmte Effekte auf den menschlichen Körper und Geist objektiv zuzuordnen und damit Musik bewusst und gezielt – ähnlich wie Medizin – als Heilmittel einzusetzen?

Mathias Grassow: Das habe ich teils schon beantwortet. Vorstellbar und wünschenswert ist das schon, aber ich zweifele daran, dass es allgemeingültige Formeln gibt. Eine Art ‚Breitbandantibiotikum‘ ist sicher durch Forschung und Feldstudien rasch zu entwickeln, aber jeder Mensch hat seine ganz persönliche Geschichte, also müsste für jeden ‚Klienten‘ eine persönliche CD ‚entwickelt‘ werden, die er solange hört, bis sich ihre Wirkung voll entfaltet hat. Dann müsste wieder neu zusammengestellt werden - eine unendliche Geschichte. Ebenso müssten Behandelnder und Behandelter in gleicher Weise schwingen und sich mit dem Herzen verbinden, also in der ‚Liebe sein‘. Da unsere Medizin allerdings ein knallhartes Profitgeschäft ist, zweifle ich weniger an der Machbarkeit, als an echter Intention, diese Welt zu verändern und zu wandeln.

Es geht nur, wenn wir alle uns zusammenschließen und die Verbundenheit zu allem fühlen lernen. Erst dann ist alles möglich und es werden sich Wege und Kanäle öffnen, die wir heute noch als ‚übersinnlich‘ bezeichnen. Aber VORSICHT: Eine Gabe oder besondere Fähigkeit heißt noch nicht, dass ein Mensch im Herzen und in der Liebe ist.

Michael Brückner: Ist es für Dich darüber hinaus vorstellbar, mit Musik auch andere Vorgänge oder Ereignisse in der "physikalischen Wirklichkeit" zu beeinflussen – vielleicht wie eine wissenschaftliche Version des Regentanzes?

Mathias Grassow: Haha, nun wenn z. B. ein Musikstück die ‚Spontanheilung‘ eines Schwerkranken evozieren würde, würde man das als ‚Wunder‘ bezeichnen und zu den Akten tun. Es kann doch nicht sein, was nicht sein darf, oder? Andere wiederum würden verzweifelt nach der Formel dahinter suchen und keine finden…

Was ist Wirklichkeit, was Illusion? Die einzige unbeeinflussbare Konstante in unserem Universum ist die Gravitation.

Michael Brückner: In der schamanischen Tradition, die wir kurz erwähnt hatten, aber auch in der psychedelischen Musik und später in der elektronischen Trancemusik spielten Drogen eine Rolle; wenn man sich mit Meditation, Traum und anderen "erweiterten Bewusstseinszuständen" befasst – auch solchen, die durch musikalische Techniken wie z. B. Mantragesang vermittelt werden können – sieht man, dass starke Ähnlichkeiten zu bestimmten Erfahrungen bestehen, die Menschen unter Einfluss psychedelischer Drogen haben, und die z. B. von Aldous Huxley, Timothy Leary oder – systematischer – von dem Forscher Stanislav Grof beschrieben wurden, der in den 50er und 60er Jahren mit LSD experimentierte, und es übrigens später durch eine Kombination bestimmter körperlicher Reize (bzw. auch Reizdeprivation) und Musik ersetzte, bzw. ganz ähnliche Wirkungen erzielte. Es gibt da also offensichtlich auch viele Berührungspunkte.

Hast du früher in deinem Leben einmal Erfahrungen mit psychedelischen Drogen gemacht, und hat das dein Musikschaffen in irgendeiner Weise beeinflusst (ich erinnere mich an ein Zitat von Klaus Schulze aus den 70ern : "LSD hat uns den Weg freigeballert ...")?

Mathias Grassow: Meine Erfahrungen damit sind weniger umfangreich, als meine Geschichte vermuten lassen könnte. Ohne mich hier in Einzelheiten verlieren zu wollen: Nichts macht das Leben besser oder schlechter, wenn wir Hilfsmittel nehmen oder es sein lassen. Niemand macht bessere Musik ‚mit‘ oder ’ohne‘. Es hängt alles davon ab, in welchem Zustand und welcher Intention wir etwas zu uns nehmen. Ja, ich habe Erfahrung, aber es hat mich nicht zum besseren oder erleuchteteren Mensch gemacht.

Michael Brückner: Bist du der Meinung, dass der (moderate und bewusste) Einsatz von Drogen die spirituelle oder heilsame Wirkung von Musik steigern, oder günstig beeinflussen kann? Oder würdest du eher dem zustimmen, was vor vielen Jahren mal eine Freundin von mir sagte: "Die beste Droge ist ein klarer Kopf"?

Mathias Grassow: Wir haben alle KEINEN klaren Kopf, sondern nur eine Sehnsucht nach unserem Zuhause. Bei Drogen gilt generell: Wenn Dosis, Set und Setting stimmen, können Sie etwas Positives bewirken, meinetwegen auch dauerhaft. Aber wir neigen dazu, alles aus dem Ego heraus zu nutzen und dementsprechend noch MEHR, noch INTENSIVER erleben zu wollen. Wir nutzen Drogen zur Enthemmung, zur Sozialisation, Party, Flucht und Spaß. Das ist sicher nicht der Sinn dahinter. Wer aber eine tiefe spirituelle Erfahrung sucht und eben die Voraussetzungen die Besten sind, kann hier möglicherweise einen entscheidenden Schritt nach vorne machen.

Michael Brückner: Abschliessend zu diesem Thema: Ich kann mich erinnern, dass zu bestimmten Zeitpunkten, wie den späten 60ern, aber auch wieder in den späten 80ern / frühen 90ern, die Hoffnung recht groß schien (vielleicht auch nur mir), dass durch eine Art spirituelle Wende – möglicherweise vermittelt durch spirituelle Techniken und transformative Erlebnisse – die Menschheit geläutert und die Welt gerettet oder erneuert werden könnte. Sicherlich drückt sich ein solcher Optimismus auch teilweise in Hamels "Durch Musik zum Selbst" aus. Hattest du zu bestimmten Zeiten auch ähnliche Hoffnungen oder Wünsche, und wie siehst du diese Dinge heute? Hat Musik, und hat Spiritualität, deiner Meinung nach die Kraft, die Welt – oder vielleicht zumindest das Leben einzelner Menschen – zum Besseren zu ändern? Oder ist es eher etwas Schönes für diejenigen, die dafür empfänglich sind, und die Welt geht ihren Gang zum Guten oder Schlechten, ohne dass Musik dabei eine Rolle spielt?

Mathias Grassow: Ich denke heute, dass es innerhalb der ‚Illusionsmatrix‘ unserer Erde, wie auch des gesamten Universums, nicht möglich ist, daraus zu entfliehen. Nicht zumindest ohne tief gefühlt zu haben, dass wir alle Programme innerhalb vieler noch aufwändigerer Programme sind. Wir können eine Illusion nicht innerhalb einer größeren Illusion erkennen. Es gibt keine Zeit, nur Zeitebenen und wir existieren auch nicht wirklich in einer linearen Zeitabfolge. Erkennen heisst fühlen, dass es ein echtes Zuhause gibt – jenseits aller Gefühle und Emotionen. Das absolute Nichts ist so haltlos und unbegreifbar, dass es uns Angst macht.

Der einzige Schlüssel zur Erkenntnis und zum Ausstieg aus dem Dilemma ist bedingungslose und absichtslose Liebe. Es gibt heute und hier nichts anderes zu lernen. Unser Verweilen hier auf der Erde ist die Lebensschule.

Unser Zuhause ist nicht hier. Alle Musik dieser Welt drückt unsere Sehnsucht nach dort aus, von wo wir einst kamen; alle nur erdenklichen Gefühle sind Ausdruck dieser Sehnsucht.

Insofern bin ich desillusioniert, denn New-Age, der Aufbruch und alles, was die 68er-Aufbruchsgeneration so idealisierte, war auch nur ein Programm zur Fütterung der Menschen; ein neues Spielzeug in einer alten Arena.

Meine Hoffnung ist meine Erinnerung – die hoffentlich ausreicht, um mich heim zu bringen.

Ich möchte nicht noch eine Schleife drehen.

Meine Musik ist das Echo meines Rufs …

 

Michael Brückner

Fotos: (c) Mathias Grassow

 

Michael Brückners Lieblingsalben von Mathias Grassow (bisher ...)
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