Das ganze Wochenende in Oirschot

Als vor einem Jahr Loom für E-Live angekündigt war und die Karten lange im Voraus ausverkauft waren, hätte man meinen können, so ein Erfolg wäre nicht mehr zu toppen. Groove-Chef und E-Live-Organisator Ron Boots ist dieses Kunststück aber gelungen: Dieses Jahr konnte er Tangerine Dream als Haupt-Act gewinnen, und die Karten für den Samstag waren derartig schnell ausverkauft, dass Ron den Sonntag hinzugenommen hat. Alle, die für den Samstag keine Karte ergattern konnten, haben auf diese Weise eine Chance, Tangerine Dream (und David Wright) doch noch live in 'De Enck' zu sehen. Da Tangerine Dream für den Sonntag ein anderes Set versprochen hatte, haben natürlich viele dieses Angebot auch für ein komplettes Wochenende in Oirschot genutzt - je nachdem von wo man kommt, ist die Übernachtung ohnehin gebucht. Wir haben es von Aachen aus nicht ganz so weit und sparen uns das Hotelzimmer, das Geld kann man auch in CDs investieren.

Samstag

Überhaupt, die CD-Stände: Nach dem Check-In und dem obligatorischen Armband, das in diesem Jahr sogar schick mit dem E-Live-Schriftzug bedruckt ist, fällt der Blick natürlich erst einmal auf die Stände im Foyer. Den größten Stand hat in Oirschot natürlich Groove selber, neben Neuveröffentlichungen, nicht nur aus dem eigenen Haus, findet sich auch immer eine "Schnäppchen-Ecke" mit Sonderangeboten. Von den sonstigen EM-Labels fehlt dieses Mal lediglich Syngate. Die prominenteste Neuveröffentlichung an diesem Tage findet sich bei Manikin Records: Broekhuis, Keller und Schönwälder erweitern ihren Farbenzyklus um "Yellow". Alle drei sind da und haben gut zu tun, die verkauften CDs zu signieren. Die "Grundfarben" sind mit diesem Album übrigens abgeschlossen, die nächste Farbe wird "Purple" sein. Das Farbspektrum bietet für die Zukunft noch eine große Auswahl, nur Braun - so wird versichert - wird es nie geben.

Nach dem Rundgang an den CD-Ständen ist noch Zeit bis zum ersten Konzert und Gelegenheit, den "kleinen" Saal im ersten Stock zu besuchen. Es ist eine gute Tradition von E-Day und E-Live, dass Künstler, die sich vielleicht noch nicht auf die große Bühne trauen, hier in den Pausen kleine Auftritte in einem kleineren und intimeren Rahmen machen können. Heutiger Gast ist Jurgen Winkel aka SONICrider. Erste Überraschung: der Raum ist komplett verdunkelt, einzige Lichtquellen sind das modulare System und eine große Zahl anderer Klangerzeuger, die über zwei Tische verteilt sind - damit hätte man auch problemlos die Bühne im Hauptsaal füllen können. Eines davon ist besonders originell und steht nicht auf, sondern neben dem Tisch: Ein Rad aus einem Fahrrad (ohne Reifen!), mit dem man durch Drehen oder Reiben Theremin-artige Töne erzeugen kann. Davon wird während der Performance auch reichlich Gebrauch gemacht, und das Ergebnis wird auf der Leinwand in einer Art Diagramm visualisiert. Wie es klingt? Ich würde es in die Kategorie "experimentell" einstufen, wer zum Beispiel Modulator ESP mag, der ist auch bei SONICrider an der richtigen Stelle. Freunde von Melodien und Sequenzen werden hier vielleicht nicht ganz so glücklich.

... was aber nichts macht, denn Ron Boots ist auch dafür bekannt, die Acts bei E-Live und E-Day so zusammenzustellen, dass für jede(n) etwas dabei ist. Der erste Act im Großen Saal wird "Beyond Berlin" sein, und der Name sagt eigentlich schon aus, in welchem (musikalischen) Schulfach dieses Trio Bestnoten hat. Der Einlass dazu verzögert sich ein wenig, "ein paar kleine Dinge" sind noch zu erledigen. Bis die getan sind, warten wir halt noch etwas und üben uns im Schlange-Stehen, für die TD-Konzerte Abend wird man es brauchen können.

Zum Glück sind die "Großen Dinge" schon alle erledigt gewesen, namentlich der Aufbau auf der Bühne. Wie in vorigen Jahren auch stehen die Instrumente für die ersten Konzerte vorne und werden in der großen Pause abgebaut. Dahinter kann man bereits die Geräte von Tangerine Dream sehen. Sie werden noch schnell mit Tüchern abgedeckt, damit ihr Licht beim Beyond Berlin-Konzert nicht stört. Ron hält noch seine Einführung, wie immer auf Holländisch, Deutsch und Englisch, und wie immer bekommen die Engländer dabei wieder "aufs Brot geschmiert", dass sie öfter mal zu spät kommen. Heute sind aber alle pünktlich, so dass sie das Konzert von Beyond Berlin von Anfang an mitverfolgen können.

Es wäre auch schade gewesen wenn nicht, Beyond Berlin hat heute neues Material mitgebracht. Wie bereits erwähnt, lässt sich ihr Stil in der Berliner Schule mit langen Titeln und Sequenzen verorten. Aber auch innerhalb dieses Genres kann man genug variieren, dass es nicht nach ein paar Minuten langweilig wird. Der erste Titel beginnt ganz ambient-spacig mit langen Flächen, begleitet von dazu passenden Visuals. Nach etwa zehn Minuten kommt die Sequenz dazu und bestimmt den Rest des ersten Tracks. Stilistisch erinnert mich das ganze etwas an die Musik von Software, allerdings mit weniger Bass. Track Nummmer zwei steigt gleich mit der Sequenz ein und hat einen deutlich wuchtigeren Charakter als der erste. Track drei setzt bei der Lebendigkeit noch einen drauf, um schließlich wieder zum sphärischen Anfang zurückzukehren - der Kreis schließt sich.

Weite Teile dieser drei Tracks begleitet Martin Peters mit Improvisationen, was die ganze Sache noch kurzweiliger macht. Die Frage "Noch eenen?" findet daher eine einhellige Antwort. In diesem Konzert wurde die Spanne dessen demonstriert, was man mit der Berliner Schule anstellen kann - von sphärig bis dramatisch. Auch die Visuals waren gut gewählt, in dem Sinne, dass sie mit der Musik harmonierten, anstelle von ihr abzulenken. Zu guter Letzt noch ein Dank an den Lichttechniker, dass nicht der ganze Auftritt in ein dunkles Blau getaucht wurde, wie ich es anderenorts in der letzten Zeit ein paar Mal erlebt habe. Zwar mag Blau unter EM-Musikern eine beliebte Farbe sein, dem Fotografen aber macht blauer Nebel die Arbeit nicht gerade einfacher.

Nach der ersten, kleinen Pause muss noch einer traurigen Pflicht genüge getan werden: Vor einer Woche ist - für viele völlig überraschend - Klaus-Hoffmann-Hoock verstorben. Auch wenn er in den letzten Jahren keine neuen Alben mehr veröffentlicht hatte, so war er doch bis zuletzt noch aktiv und hat sich bei vielen in der Szene als ein warmherziger, verständnisvoller und immer zugänglicher Mensch eingeprägt - Sylvia hält zusammen mit Ron einen kleinen Nachruf, und bei einem von Klaus' Klassikern kann jeder im Saal ihm noch einmal im Stillen gedenken.

Der Zeitpunkt vor David Wrights Konzert ist absolut passend gewählt, hatte David doch auch in den letzten Jahren öfters mit Klaus zusammengearbeitet. David wird in dem folgenden Konzert auch noch einmal auf Klaus zurückkommen, Hauptinhalt heute soll aber ein anderes seiner Projekte sein, nämlich Code Indigo. Leider wird dieses Konzert auch auf seine Weise ein Abschied sein, nämlich von Robert Fox. Der weilt zwar noch unter den Lebenden, aus gesundheitlichen Gründen wird er sich aber nach den beiden Konzerten an diesem Wochenende von der Bühne zurückziehen, und auch von Code Indigo wird es wohl keine neue Alben mehr geben. So soll dieses Konzert noch einmal einen Querschnitt über alle Code Indigo-Alben geben, nicht nur über die letzte Veröffentlichung "Take the Money and Run". David kämpft anfänglich noch etwas mit der Technik, die Software auf dem Notebook will wohl nicht ganz so wie sie soll, aber das Motto lautet "Don't Panic!" und nach ein paar Klicks läuft dann alles so wie es soll. Von Stephan Whitlans Platz hört man noch das Zischen einer Bierdose - ein Guiness darf bei ihm wohl nicht fehlen.

Auch Carys ist wieder mit auf der Bühne, mit der David in diesem Jahr bereits Auftritte in Repelen und Hamm hatte. Heute wird sie nicht nur ihre besondere Form des Gesangs beisteuern, gelegentlich wird sie auch selber in die Tasten greifen. Verglichen mit den Vocals, die man auf den Studioaufnahmen von Code Indigo findet, ist ihr Gesang bei den heute gespielten Titeln deutlich prägnanter und im Vordergrund. Das macht die Live-Versionen der Titel natürlich deutlich emotionaler, sie kommen an diesem Abend auch deutlich wuchtiger daher. Das mag dem einem oder anderen zu viel des Guten gewesen sein - Stimme ist in der EM-Szene ja immer eine etwas umstrittene Zutat. Ich sehe gegen Ende des Auftritts, wie einige vorzeitig den Saal verlassen. Das mag aber auch daran liegen, dass das Konzert verspätet angefangen hat und sie in einem der umliegenden Restaurants einen Tisch reserviert hatten. So bekommen sie Carys Lieblingstitel nicht mehr mit (sie übernimmt auch die meisten Ansagen zwischen den Tracks), und auch nicht "Code 14", das diesen Auftritt beschließt. Auf Visuals wurde dabei übrigens durchgehend verzichtet, mit Ausnahme des Tributs an Klaus-Hoffmann-Hoock, an den auch David auf diese Weise noch einmal erinnern möchte.

Nach dem zweiten Konzert ist in Oirschot traditionell eine große Pause, in der die Organisatoren Zeit haben, die Instrumente der ersten beiden Konzerte abzubauen. Für die Gäste laufen währenddessen wieder kleine Veranstaltungen im ersten Stock, neben weiterer Klangexperimente von SONICrider kann man in einem anderem Raum auch einer Lesung zuhören. Zusammen mit Tangerine Dream ist auch Bianca Froese nach Oirschot gekommen, und sie lässt sich nicht die Gelegenheit nehmen, aus der gerade (endlich!) erschienenen Edgar Froese-Autobiografie das eine oder andere Kapitel zu lesen. Wir haben traditionell einen Tisch in der Pizzeria "Il Tavolino" am Markt reserviert, Lesungen wird es auch noch am Sonntag geben. Bei so einem vielfältigen Angebot muss man leider die eine oder andere Piorität setzen und kann nicht alles "mitnehmen".

Als wir vom Abendessen zurückkommen, hat sich das Bild im Foyer geändert. Es ist deutlich voller als am Nachmittag, offensichtlich sind viele Besucher erst zum Doppelkonzert von Tangerine Dream angereist. Obwohl der Einlass erst in einer knappen halbe Stunde sein soll, hat sich bereits eine dicke Schlange von der Tür gebildet. Wir stellen uns auch an, im Saal gilt "first come first serve" und die Plätze in den ersten Reihen sind üblicherweise zuerst belegt. Ich sehe an diesem Abend viele Besucher, die mir persönlich noch unbekannt sind. Ron Boots und Tangerine Dream ist es gelungen, mit diesem E-Live einen größeren Kreis von Interessenten anzusprechen. Ob diese am heutigen Tag auch noch an den restlichen Acts und Angeboten Interesse gefunden haben - wir werden sehen. Für die in letzter Zeit eher abnehmenden Besucherzahlen auf EM-Events könnte es nicht schlecht sein.

Beim Einlass erlebe ich dann ein Gedränge wie kaum jemals vorher in Oirschot - Vergleiche mit dem Einstieg in eine japanische U-Bahn kommen hoch. Ron und die restliche Crew bitten darum, dass die Reihen im Saal zügig von vorne nach hinten gefüllt werden, damit das Konzert pünktlich beginnen kann. Wir ergattern einen Platz in Reihe zwei, das ist zumindest meine Lieblingsreihe. Man sitzt dort schon etwas erhöht gegenüber der Bühne, andererseits ist man aber für Detailaufnahmen noch nah genug dran. Was ich persönlich etwas schade finde: genauso wie im letzten Jahr bei Loom bleiben die drei Podeste mit Tangerine Dreams Instrumenten im hinteren Teil der Bühne und wurden nicht nach vorne gezogen, wo jetzt eigentlich Platz wäre. Noch sind sie in schwaches Blau getaucht - das wird glücklicherweise nicht über das ganze Konzert so bleiben. In der Mitte agiert - wie es sich gehört - Hoshiko mit ihrer Violine, Thorsten und Ulrich haben ihre Aufbauten links und rechts davon.

In der Track-Liste des ersten Teils dominieren - wie nicht anders zu erwarten - Titel aus Tangerine Dreams gerade erschienenem Album "Quantum Gate", das den schon auf "Quantum Key" angedeuteten stilistischen Wechsel fortsetzt. Die Melodien und warmen Moll-Klänge treten etwas in den Hintergrund, der Stil geht eher in Richtung moderner Electronica, was zweifelsohne der Einfluss von Ulrich Schnauss ist. Einen stilistischen Wechsel hatte Edgar Froese aber geplant, als er Ulrich in die Band geholt hat, es ist also keineswegs so, als würde hier die musikalische Substanz von Tangerine Dream verraten. Im Gegenteil, es war bei Tangerine Dream eigentlich immer der Wandel das Prinzip. Und die Fans von TD-Klassikern kommen mit "White Eagle", "Rubycon" und "Logos" auch auf ihre Kosten. Der emotionale Höhepunkt dieses ersten Teils ist zweifelsohne "Song of the Whale", das von Bildern Edgars begleitet wird - das ganze Konzert hat ja das Gedenken an ihn als Untertitel. "Love on a Real Train" und "The Silver Boots Of Bartlett Green" beschließen diesen ersten Teil, der mit fast anderthalb Stunden etwas länger ausfiel als erwartet.

Die Pause bis zum zweiten Teil des Konzerts ist eine kurze, wer keinen letzten Kaffee braucht oder auf die Toilette muss, darf dieses Mal im Saal bleiben. In diesem zweiten Teil wird dem Publikum das geboten, was Tangerine Dream in diesem Jahr bereits mehrfach gespielt hat: Nach einem Block mit Klassikern und Titeln von Alben ein einziges langes und komplett improvisiertes Stück, mit dem TD quasi wieder zu seinen Wurzeln in den 70er-Jahren zurück kehrt. Das Ergebnis klingt natürlich nicht genauso wie zu Zeiten von "Stratosfear", sowohl Thorsten als auch Ulrich bringen in diese Form ihre musikalischen Ideen ein, die in Richtung Rock oder Electronica gehen. Und was soll ich sagen: dieser Mix gelingt von Mal zu Mal besser. Hatte es Anfang des Jahres in Berlin damit noch einige Schwierigkeiten gegeben, so gelingen diese "Sessions" inzwischen sehr gut - so gut, dass einige davon inzwischen ihren Weg auf TD-Alben gefunden haben. Denn wie es sich für eine Improvisation gehört, gleicht keine dieser Sessions einer anderen. Viele meinen nach diesen zweiten Teil, dass er gerne noch länger als 45 Minuten hätte laufen können. Auf jeden Fall war dieser Teil für viele TD-Fans die positive Überraschung des Abends, und sozusagen eine perfekte "Kür" nach dem "Pflichtprogramm" im ersten Teil. Thorsten versichert mir, die Session wäre zu 100% live gespielt worden, und das glaube ich ihm auch. Man konnte deutlich sehen, dass er und Ulrich in dieser Session deutlich mehr Hand anlegten als im ersten Teil, wo die eine oder andere Spur vielleicht doch fertig vom Band kam. Völlig zufrieden machen wir uns auf den Heimweg. Es wird eine kurze Nacht werden, mit dem Sonntag erwartet uns ja noch ein zweiter Tag dieses E-Live.

Sonntag

Selbiger beginnt um 15 Uhr etwas später als der am Samstag, neben dem Doppelkonzert von Tangerine Dream wird es heute nur ein weiteres Konzert von Code Indigo gegen. Wir sind recht früh da, das Personal von "De Enck" muss noch aufschließen und die Anmeldung ist auch noch nicht besetzt. Das gibt aber Gelegenheit, die eigenen Eindrücke über den ersten Tag mit Ron Boots auszutauschen. Auch er bestätigt, dass die frei gespielte TD-Session im zweiten Teil sehr gut angekommen ist, und er geht auch noch ein wenig auf den einzigen echten Kritikpunkt ein: die Lautstärke im ersten Teil. Besonders in der ersten Dreiviertelstunde war es so laut, dass sowohl Lautsprecher als einige Zuschauer an ihre Grenzen kamen. Ron erzählt, dass er nach ein paar Beschwerden die Lautstärke ein Stückchen hatte zurücknehmen lassen, und danach gab es auch keine Klagen mehr. Er erzählt dann auch noch, dass es durchaus Lautstärke-Vorschriften in Holland gibt und im Saal Sensoren installiert sind, die die Lautstärke überwachen. Die haben am Samstag Abend in keinem Fall angeschlagen. Und seien wir mal ehrlich: Konzerte von Tangerine Dream sind traditionell laut. Ich erinnere mich an ein Konzert von 1997 in der Beethoven-Halle in Bonn, wo TD eine PA aufgebaut hatte, die für ein kleines OpenAir-Konzert gereicht hätte. Wer empfindliche Ohren hat, setzt sich besser etwas weiter nach hinten oder bringt passende Ohrstöpsel mit.

Im Gegensatz zum Samstag ist der Sonntag nicht ganz ausverkauft, gut 100 Plätze bleiben im großen Saal leer. Der (wieder etwas verspätete) Einlass verläuft damit deutlich entspannter als am Samstag. Ron erwähnt in seiner Einführung, dass er das eine oder andere Gesicht von gestern wiedererkennt, und hofft, dass alle gut geschlafen haben - er und die Musiker hätten diese Nacht nicht allzuviel Schlaf gehabt. Als Veranstalter muss er ja ganz bis zum Schluss bleiben, und das war wohl deutlich nach zwei Uhr, und die Vorbereitungen für den zweiten Tag haben schon am Vormittag begonnen. Die Engländer? Ach ja, Ihr seid natürlich wieder mal zu spät, aber zum Glück seid Ihr es doch nicht, denn das erste Konzert fängt heute ja später an. Und als hätte Ron es bestellt, kommt in diesem Moment noch John Dyson in den Saal geeilt und hat die Lacher auf seiner Seite.

Code Indigo hat heute die ganze Breite der Bühne zur Verfügung, und das haben sie genutzt, um etwas anders aufzubauen. Die Besetzung - David Wright, Robert Fox, Stephan Whitlan an den Keyboards, Carys mit Vocals und Keyboards sowie Andy Lobban an der Gitarre - ist die gleiche, aber Robert Fox, für den es heute sein wirklich letztes Konzert ist, hat seinen Platz jetzt auch in der ersten Reihe, direkt neben Carys. Gestern musste er noch hinter ihr Platz nehmen und wirkte ein wenig 'eingeklemmt'. Bei einer Reihe von Titeln übernimmt er heute auch die musikalische Führung, und die Vocals von Carys sind im Vergleich zum Samstag etwas weniger im Vordergrund. Nennenswerte technische Probleme wie ein Hall, der sich nicht ausschalten lässt, treten heute auch nicht auf - ein schöner, runder Auftritt, mit einem komplett anderen Set als am Samstag, der Robert Fox einen würdigen Abschied von der Bühne beschert. An dessem Ende ergreift Robert auch noch das Mikrofon und bedankt sich bei Publikum und Mitmusikern für all die Jahre. Auf der Bühne werden wir ihn leider nicht mehr sehen, das macht er klar. Aber ob doch noch einmal etwas von Code Indigo aus dem Studio kommt? Da hatte Carys am Vortag ja ein kleines Hintertürchen geöffnet, als sie meinte, "Take The Money & Run" wäre Code Indigos letztes Album, "...or maybe not?". Warten wir einfach ab.

Bis zum Sonntags-Konzert von Tangerine Dream ist wieder eine große Pause. Pizza ist dieses Mal nicht eingeplant, es bleibt bei einer schnellen Portion Fritten, bevor wir in den ersten Stock zu Bianca Froese gehen, die wieder ein paar Kapitel aus der Biographie ihres Mannes lesen wird. Eines der Kapitel, nämlich Edgars erste und einzige Begegnung mit Jimi Hendrix, kannte ich bereits, daraus hatte Bianca schon im Januar in Berlin gelesen. Dieses Mal hören wir auch von Edgars Begegnung mit Salvador Dali, und wie der Meister ihm einen Einblick in sein Atelier und seine Arbeits- und Denkweise gewährt. Die dritte Episode aus Edgars Erinnerungen spielt im Jahr 1975. Tangerine Dream ist gerade auf Tour in Australien, und einige Boards des großen modularen Moog sind leider auf dem Transport zerstört worden. Lässt sich noch rechtzeitig Ersatz aus USA beschaffen? Findet man vielleicht einen Lötkünster an der örtlichen Universität, der noch etwas retten kann? Oder kann man sich bei einem Musiker vor Ort Ersatz leihen? Der Auftritt wird ein Abenteuer und läuft alles andere als gut. Aber auch solche Konzerte muss man überstehen und verarbeiten.

Wie am Vortag auch, ist es nicht verkehrt, sich für Tangerine Dream rechtzeitig in die Schlange vor dem Hauptsaal einzureihen. Das Gedränge ist zwar nicht ganz so groß wie am Samstag, aber über 200 Zuschauer für den zweiten Tag sind eine Zahl, mit der man bei früheren E-Days schon am Samstag zufrieden gewesen wäre. Bevor Tangerine Dream beginnt, geht ein schon leicht heiserer Ron noch darauf ein, wie es überhaupt zu diesem Extra-Tag gekommen ist: Nach der Ankündigung von Tangerine Dream als Haupt-Act waren die Karten für den Samstag nach 12 Tagen ausverkauft, und viele von Rons "Stammkunden" waren noch ohne Ticket. Seine Frau machte den Vorschlag, noch einen zweiten Tag anzuhängen, und glücklicherweise waren sowohl Tangerine Dream als auch David Wright spontan dazu bereit. Als dann noch bekannt gegeben wurde, dass am Sonntag ein komplett anderes Set gespielt werden würde, haben natürlich auch viele die Gelegenheit ergriffen, das ganze Wochenende in Oirschot zu buchen. So dürfte auch der Sonntag für Ron kein Verlustgeschäft geworden sein.

Einige wenige Tracks von "Quantum Gate" waren am Samstag nicht gelaufen, sie werden im ersten Teil des Konzerts durch einige "moderne Klassiker" wie "Madagasmala", "Power of the Rainbow Serpent" und "Second Gravity" ergänzt und mit "Mothers of Rain" ihr Finale findet. Sound und Lautstärke passen heute von Anfang an, den meisten, die schon am Samstag da waren, gefällt das Sonntags-Konzert noch besser. Das gilt auch für die zweite Hälfte, die wieder frei improvisiert und gänzlich live gespielt ist. Eine Zugabe danach? Das wäre schwierig. Thorsten meint, sie hätten alle dreißig vorbereiteten Tracks gespielt, womit er selber vorher nicht gerechnet hätte, und jetzt wieder in eine neue (Mini-)Session einzusteigen - naja, das wäre wohl wirklich etwas zuviel verlangt.

So endet das diesjährige E-Live gerade noch vor Mitternacht, was für einen Sonntag auch nicht verkehrt ist - zumindest ich muss am Montag wieder arbeiten. Für mich wird es der erste Arbeitstag nach zwei Wochen Urlaub sein. Etwas von der guten Urlaubsstimmung in den Alltag herüberzuretten, wird dieses Mal für mich einfacher werden, und das liegt an diesem Wochenende in Oirschot. Ein E-Live wie in diesem Jahr dürfte kaum zu übertreffen sein. Andererseits: das hatte ich vor einem Jahr schon einmal gedacht.

Alfred Arnold