Grünkohl und ein halbes Musiker-Leben am Montag

Heute ist in zweifacher Hinsicht ein besonderer Tag. Zum Einen geht es nicht zu einem Konzert, sondern zu einer Lesung. Karl Bartos, von 1975 bis 1991 bei Kraftwerk, hat vor einigen Wochen seine Memoiren veröffentlicht und geht mit ihnen auf "Tournee". Ich habe sein Buch "Der Klang der Maschine" auch auf dem Nachttisch liegen, bin bisher aber noch nicht zu den Kapiteln mit seiner Kraftwerk-Zeit vorgedrungen - ich werde also heute den einen oder anderen Ausschnitt hören, den ich noch nicht kenne.

Zum Anderen ist heute nicht Wochenende, sondern ein Montag und ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag. Nach Feierabend geht es also nicht nach Hause, sondern direkt auf die Autobahn nach Düsseldorf, genauer gesagt zum Kulturzentrum "zakk". Die Verkehrslage meint es gut mit mir, und ich brauche für die knapp 80 Kilometer nur ein paar Minuten mehr als die vom Navi versprochenen 50 Minuten. Damit bin ich eigentlich viel zu früh da - Einlass soll erst um 19 Uhr sein. Das "zakk" hat aber bereits geöffnet, und auch die Tür zum großen Saal ist offen. Wie es der Zufall will, kommen Karl Bartos auch gerade herein, um die Location schon einmal in Augenschein zu nehmen und einige letzte Fragen zu klären. Ich höre, dass etwa 30 Karten im Vorverkauf abgesetzt wurden, man aber trotzdem damit rechnet, dass die 180 aufgestellten Stühle voll werden - eine Schätzung, die sich als richtig erweisen wird.

Einstweilen müssen wir aber noch einmal den Saal verlassen, die letzte Probe möchte man - verständlicherweise - unter Ausschluss der Öffentlichkeit machen. Die verbleibende Zeit können wir in der Bar nebenan verbringen. In der gibt es nicht nur Getränke: Die Küche hat bereits geöffnet, und keine zehn Minuten später habe ich einen Teller mit leckerer Grünkohl-Suppe vor mir stehen - das ausgefallene Abendessen. Auch andere Gäste, die nach und nach eintrudeln, entscheiden sich dafür. Hoffen wir, dass die 'Nebenwirkungen' des Kohls nicht allzu heftig sein werden...

Wie bereits angedeutet, hat sich der Großteil der Besucher entweder kurzfristig entschlossen oder von vornherein entschieden, das Ticket an der Abendkasse zu kaufen. Schon deutlich vor 19 Uhr reicht die Schlange vor dem Einlass bis zur Haustüre. Platzreservierungen gibt es nicht, wer vorne in der Schlange steht, hat auch eine Chance auf einen Platz in der ersten Reihe und die beste Sicht auf die Bühne. Die ist recht spartanisch eingerichtet: ein Tisch, ein Mikrofon und zwei Stühle. Neben der Bühne ist noch ein kleiner Stand aufgebaut, an dem man nicht nur das Buch, sondern auch die letzten beiden Solo-Alben "Kommunikation" und "Off the Record" erwerben kann. Davon wird reger Gebrauch gemacht, wohl auch mit dem Hintergedanken, sich das Buch oder eine LP im Anschluss signieren zu lassen.

Auch die Medien sind da: Der WDR hat ein Kamerateam geschickt, selbst das ZDF ist mit einem Reporter vertreten. Das WDR-Team macht nicht nur ein Interview mit Karl Bartos selber, auch einige Zuschauer in der ersten Reihe sind "dran". Ob es vielleicht doch keine so gute Idee war, sich in die erste Reihe zu setzen? Dieser Kelch geht dann glücklicherweise an mir vorbei und der Welt bleibt mein Gestotter vor laufender Kamera erspart.

Karl Bartos lässt sich Zeit - das gibt den Veranstaltern Zeit, noch schnell zwei Dutzend weitere Stühle in den Saal zu bringen. Die werden alle voll, genauso wie die Stehtische hinter den Stuhlreihen. Einer meiner Sitznachbarn meint, an einem dieser Stehtische einen verkleideten Wolfgang Flür zu erkennen - vorgestern hat ja offiziell die Kernevalssaison begonnen!

Die Bar im Saal schließt und macht damit deutlich, dass es jetzt endlich losgeht. Die Gespräche im Saal ersterben, unter Applaus taucht Karl Bartos hinter dem Vorhang auf. Er meint, er wäre ziemlich aufgeregt, nach all den Jahren wieder einmal in Düsseldorf zu sein und auf einer Bühne zu stehen - aber keine Sorge, er ist ja unter Freunden. Im Saal erkennt er den einen oder anderen Bekannten aus früheren Zeiten wieder.

Auch auf der Bühne selber ist er nicht alleine: er hat sich einen Gesprächspartner mitgebracht, die folgenden anderthalb Stunden werden größtenteils als eine Art Live-Interview auf der Bühne ablaufen. Das wird gelegentlich durch kleine Abschnitte aus seinem Buch unterbrochen, die dann thematisch als Aufhänger für das folgende Gespräch dienen. Das erste von ihnen beschreibt zum Beispiel seine Eindrücke, als er anno 1974 zum ersten Mal das Kling-Klang-Studio betritt und Ralf und Florian kennenlernt. Aus dieser ersten Begegnung sollten dann ja über anderthalb Jahrzehnte werden, und von einem Mit-Spieler entwickelt er sich im Laufe der Zeit zu einem Mit-Komponisten. "Die Mensch-Maschine" markiert diesen Rollenwechsel, und Karl Bartos erzählt recht ausführlich, wie es zu diesem Album-Titel gekommen ist: der erste Star-Wars-Film, die Roboter R2-D2 und C-3PO, und "I Robot" von Alan Parsons. Der Begriff "Roboter" war damit für den Titel schon verbraucht, also wurde es die Mensch-Maschine.

Ähnlich wichtig ist Karl Bartos wohl "Computerliebe", dessen Melodie viele Jahre später als Cover in einem Coldplay-Song wieder auftauchte. Wieviel er an daran verdient hat? Eine warme Dusche vielleicht, aber keinen Ozean.

In den 80er-Jahren veränderten digitale Synthesizer auch die Arbeitsweise im Kling-Klang-Studio, eine schleichende Veränderung, die Karl Bartos persönlich als einen der Gründe für seinen Ausstieg Anfang der 90er Jahre sieht: Aus dem intuitiven Live-Zusammenspiel im Studio wurde das unabhängige Arbeiten mit dem Computer, und unter dem Druck neuer Strömungen in der elektronischen Musik wurde das Kreative und Intuitive durch eine Art "Leistungsprinzip" ersetzt, mit dem er sich letzten Endes nicht mehr anfreunden konnte.

Seine Karriere nach Kraftwerk wird an diesem Abend leider nicht mehr beleuchtet, die muss man im Buch nachlesen. Die Zeit reicht nur noch für drei abschließende Fragen. Was berührt ihn heute noch musikalisch? Die überraschende Antwort: wenn Daniel Barenboim Debussy dirigiert - seine Zeit am Konservatorium und der Umgang mit klassischer Musik hat über die Kraftwerk-Zeit nicht an Bedeutung verloren. Ob er glaubt, dass es noch einmal ein neues Album von Kraftwerk geben wird? Die diplomatische Antwort, da müsste man schon Ralf Hütter fragen, geht beinahe im Gelächter des Publikums unter. Und zuguterletzt: Ob er seinen Frieden mit Kraftwerk gemacht hat? Nun, genau um das zu schaffen, hat er das Buch geschrieben.

Mit diesen drei Fragen endet die "Lesung", aber für Karl Bartos ist der Abend noch lange nicht vorbei. Jetzt geht es ans Signieren von Schallplatten, CDs und Büchern, für das sich lange Schlangen am Tischchen neben der Bühne bilden. Vielleicht wird der eine oder andere Zuschauer dabei noch seine eigenen Fragen los, für die eben keine Zeit mehr war. Mein Buch und meine CDs liegen zu Hause, ich mache mich alsbald auf den nicht so weiten Heimweg nach Aachen. Während der Fahrt denke ich noch ein wenig über die Einsichten in eine Welt nach, die jahrzehntelang mehr oder weniger abgeschlossen war und aus der nichts nach außen drang - zerstören solche Bücher die Mystik um Kraftwerk? Darüber kann jeder seine eigene Meinung haben. Bei mir bleibt das Gefühl, einen beeindruckenden Musiker getroffen zu haben, dessen Horizont weit über Kraftwerk und die elektronische Musik im allgemeinen herausreicht.

Alfred Arnold