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Eine kosmische Nacht in Brüssel

Ein Festival, das jedes Jahr stattfindet, ist eine schöne Sache. Zwei Festivals, von denen eines in der "Frühjahrs-Saison" liegt und eines nach der Sommerpause im Herbst, sind aber noch besser. Ron Boots setzt dieses Prinzip seit vielen Jahren mit seinem E-Day und E-Live in Oirschot um, und auch der belgischen Elektronik-Szene ist es seit einigen Jahren gelungen, zwei Veranstaltungen pro Jahr zu etablieren. Zwar haben "B-Wave" im Spätherbst und "Cosmic Nights" im Frühling gänzlich andere Namen und auch einen anderen Schwerpunkt, im Hintergrund sind aber zum Teil die gleichen Organisatoren am Werk.

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Während B-Wave für alle Stilrichtungen elektronischer Musik offen ist, hat sich "Cosmic Nights" gänzlich der Musik der Berliner Schule verschrieben, und wie der Name bereits erahnen lässt, dabei wiederum den Sequenzen und Sounds, die gedanklich eine Reise in ferne Universen erlauben. Der Spielort ändert sich von Jahr zu Jahr, in den vergangenen Jahren hatte Haupt-Organisator Mark der Wit bereits alte Kirchen und Industrieanlagen mit sphärischen Klängen gefüllt und füllen lassen. In diesem Jahr findet die kosmische Nacht im Planetarium Brüssel statt, einem Ort, zu dem sie grob jedes zweite Jahr zurückkehrt.

Das Planetarium Brüssel liegt auf dem Gelände der Weltausstellung von 1958, unweit des Atomiums. Steht man vor dem Eingang des Planetariums, sind dessen Kugeln, die die Atome eines überdimensionalen Eisenkristalls darstellen, bereits unübersehbar. Cosmic Nights wird erst am Abend beginnen, und es liegt nahe, an diesem Samstag ein paar Stunden früher zu kommen und dem Atomium vorher noch einen Besuch abzustatten. Es repräsentiert auf seine Weise den Aufstieg und Niedergang des Atomzeitalters. Als es in den 1950er-Jahren gebaut wurde, glaubte man noch, die friedliche Nutzung der Atomkraft würde alle Energie-Probleme der Menschheit lösen, und die in den Kugeln ausgestellten Dokumente und Bilder aus dieser Zeit machen den damaligen Optimismus greifbar. Der Traum von der Atomkraft hat sich bekanntermaßen eher in einen Albtraum verwandelt, und auch das dahin rottende Atomium war viele Jahre auf seine Weise ein Symbol für den Niedergang des Atomzeitalters. Zum Abriss ist es aber dann doch nicht gekommen, Anfang der 00er-Jahre wurde es umfassend saniert und die Kugeln glänzen wieder. Der Besucherzuspruch ist ungebrochen, unter anderem weil man auf der obersten Kugel einen wunderbaren Ausblick über die Stadt genießen kann. In den anderen Kugeln, die untereinander mit Treppen oder Rolltreppen verbunden sind, finden neben den erwähnten Erinnerungen an die Weltausstellung auch wechselnde Ausstellungen ihren Platz. Aktuell beschäftigen sich die Exponante in einer Kugel mit den Werken von Rene Magritte.

Das Atomium schließt um 18 Uhr, das ist praktischerweise auch die Zeit, um die "Cosmic Nights" seine Türen öffnet. Eine echte Besonderheit dieses Abends: der Eintritt ist frei, und jeder Besucher erhält auch noch eine kostenlose CD mit Titeln der heute spielenden Künstler! Einzig eine Anmeldung per E-Mail im Vorfeld war erforderlich. Wie Mark de Wit und seine Mitstreiter dieses Kunststück fertig gebracht haben - ich weiß es nicht so genau, ich vermute aber, dass es gelungen ist, für dieses Event zahlungskräftige Sponsoren zu finden. Der Zuspruch ist dementsprechend sehr gut: An die 250 Reservierungen sollen im Vorfeld eingegangen sein, und auch wenn nicht alle gekommen sind, wird die Kuppel des Brüsseler Planetariums an diesem Abend zu zwei Dritteln gefüllt sein.

Dementsprechend voll ist es auch vor dem ersten Konzert im Foyer. Die diversen Schaukästen und interaktiven Exponate des Planetariums selber sind noch in Betrieb. Wer will, kann sein Wissen über die Astronomie testen, die Oberfläche der Planeten und ihrer Monde auf eine Kugel projizieren oder sich Einzelteile eines Planetariumsprojektors im Detail anschauen. Neben einer Bar mit Getränken und Snacks dürfen auf so einem Event natürlich nicht die CD-Stände fehlen. Belgische Vertriebe und Labels, deren Stände man ansonsten in Deutschland eher selten sieht, sind mit ihrem Angebot natürlich besonders interessant. Da Ron Boots an diesem Abend spielen wird, hat auch Groove Unlimited einen Stand. Auf dem Groove-Label ist übrigens auch die CD erschienen, die jeder Besucher kostenlos erhalten hat. Wer nicht an diesem Abend in Brüssel war, kann auf diesem Wege vielleicht noch an ein Exemplar gelangen. Auch Lambert hat mit seinem Spheric-Label den Weg nach Belgien gefunden. An Neuigkeiten hat er z. B. "nEW fREQUENCIES" von Robert Schröder im Gepäck. Die ist für einen Aachener wie mich natürlich Pflichtprogramm, in den anderen mitgebrachten Kartons findet sich aber auch immer wieder ein älteres Schätzchen, das eine Lücke in der Sammlung schließt.

Mit etwas Verspätung wird die Treppe zur Kuppel und zum ersten Konzert freigegeben. Eine Besonderheit des Brüsseler Planetariums: der Sternenprojektor ist ein älteres Modell in der "klassischen" Hantelform und mit viel Mechanik, um die einzelnen Sterne und Planeten darzustellen. Bis 2009 war er noch im regulären Einsatz, danach wurde er von einer auch andernorts installierten Fulldome-Projektion abgelöst. Er wurde aber nicht demontiert und ist immer noch voll betriebsbereit.

Das Brüsseler Planetarium hat eine sehr große Kuppel, und zwischen dem Sockel des Projektors und der innersten Sitzreihe ist genug Platz, dass die Musiker ihre Instrumente um den Sockel herum aufbauen können. Eine separate, kleine Bühne wie in Bochum gibt es hier nicht.

Das erste der drei Konzerte dieses Abends wird vom "Gastgeber" und Hauptorganisator selber bestritten. Mark de Wit alias RHEA präsentiert sein neues Album "108 minutes that changed the world". 108 Minuten dauerte der Flug von Juri Gagarin, dem ersten Menschen im Weltall. Ganz so lang wird das Konzert nicht sein, die Bilder an der Kuppel sowie die Musik orientieren sich aber am Ablauf des Fluges: den Startvorbereitungen, dem Abheben der Rakete, dann der Eintritt in den Orbit und das Umkreisen der Erde. Originale Funksprüche des Fluges werden mit atmosphärischen und futuristischen Sounds begleitet - dieser Flug war ja ein Aufbruch in eine neue Welt und ein neues Zeitalter. Die Bilder der Erdoberfläche aus dem Weltall sind größtenteils keine Originalaufnahmen von Gagarins Flug - damals gab es noch kein Farbfernsehen aus der Kapsel und man musste sich mit ein paar unscharfen Schwarzweiß-Aufnahmen begnügen. Das stört aber nicht, und im Gegenteil kann man sich so noch besser in das hineinfühlen, was in Gagarins Kopf vorgegangen sein muss.

Gegen Ende wird die Musik dramatischer, passend zum feurigen Wiedereintritt in die Atmosphäre. In der vergangenen Stunde haben wir ein stimmiges Gesamtkunstwerk gehört. Eine Zugabe wird nicht gespielt, und sie wäre jetzt auch wie ein fünftes Rad am Wagen. Erfreulich ist für Mark auch, dass dieses Mal die Technik mitgespielt hat - letztes Jahr in Heusden hatte er bei seiner "Ode an die Maschinen" mit technischen Problemen zu kämpfen und musste nach ein paar Minuten abbrechen. Dieses Mal hat alles einwandfrei funktioniert. Und den am weitesten gereisten Gast dieses Abend dürfte das Thema wohl besonders gefreut haben: der ist extra für diesen Abend aus Jekaterinenburg gekommen und in Russland ist Gagarin heute noch ein nationaler Held.

Bis zum nächsten Konzert ist eine halbe Stunde Pause, und die Zuschauer werden gebeten, wieder zurück ins Foyer zu gehen, damit sich die Musiker auf das nächste Konzert vorbereiten können. Bar und CD-Stände sind in der halbstündigen Pause natürlich weiterhin geöffnet. Ein Gong kündigt den Beginn des zweiten Konzerts an und der Aufgang zur Kuppel wird wieder geöffnet.

Ron Boots wird dieses zweite Konzert bestreiten, und eine Besonderheit ist, dass er heute komplett solo spielt. Ansonsten holt er sich ja gerne den einen oder anderen Mitstreiter auf die Bühne. Harold van der Heijdens Schlagzeug hätte zu den heute angesagten kosmischen Klängen eher nicht gepasst. Was ich mir aber schon erwarte, ist eine gewisse "Dramatik" in der folgenden Stunde, denn Ron hat einmal gesagt, er habe bei seiner Musik immer auch einen Film im Kopf. Die Inspiration dazu bekommt er, denn jetzt läuft die Full-Dome-Projektion und zeigt die Silhouette Brüssels auf der Kuppel. Der Einstieg ist sehr zurückhaltend und spacig, fast in Fortsetzung des vorherigen Konzerts. Ron Boots wäre aber nicht Ron Boots, wenn das so bleiben würde, und sobald die Projektionen "abheben" und ins All wechseln, steigert auch er das Tempo und den Druck seiner Sequenzen. Nach einem ersten "Höhepunkt" geht es wieder in ruhigere Gefilde, um sich am Ende wieder in das Finale zu steigern. Ohne Frage war das "Berliner Schule", wie sie bei Cosmic Nights erwartet wird, aber eben in der Form, wie sie Ron Boots interpretiert. Auch nach dem Konzert bleibt noch eine Traube um Rons Aufbau stehen und die eine oder andere Frage wird gestellt. Ob man das eben Gespielte auch am Groove-Stand kaufen könnte? Leider nein, besonders der zweite Teil war komplett frei improvisiert. Ron hat aber alles aufgenommen, eine spätere Veröffentlichung ist nicht ausgeschlossen.

Irgendwann werden aber auch die verbliebenen Zuhörer gebeten, die Kuppel wieder zu verlassen, ins Foyer zu gehen oder auch draußen etwas frische Luft zu schnappen. Es ist mittlerweile dunkel und die Beleuchtung des Atomiums wurde eingeschaltet - die Kugeln sehen fast wie Kugeln an einem überdimensionalen Weihnachtsbaum aus. Snacks und Getränke sind weiterhin zu bekommen, bei anderen Events hat man es ja bisweilen, dass die Küche um diese Uhrzeit bereits geschlossen hat. Es ist auch nach wie vor so voll wie bisher, alle wollen auch noch den letzten Act des des Tages (bzw. Abends) sehen und hören. Hinter "Galactic Underground" verbirgt sich Johan Geens, der ansonsten unter dem Namen "Venja" eher ambiente Alben veröffentlicht.

Was Johan unter diesem Projektnamen macht? In der Ankündigung wird eine lange Liste von Attributen verlesen, zu viele, als sie sich alle zu merken und hier wiederzugeben. Eines ist mir aber im Gedächtnis geblieben, nämlich "majestätisch", weil es für mich die Musik am besten beschreibt: eine Planetensymphonie, die mit ihren athmosphärischen und mächtigen Sounds die Weite und Größe des Alls fühlbar macht. Visuell beginnt die Reise dieses Mal nicht auf der Erde, sondern auf dem Mond mit Bildern der Apollo-Landefähre und der Astronauten. Die sind danach wieder zur Erde zurückgeflogen, hier und heute geht es in die andere Richtung weiter zu den Sternen. Um die zu zeigen, kommt jetzt auch der Sternenprojektor zum Einsatz. Im Vergleich zu einem aktuellen Universarium mit LED-Technik wirken die Sterne zwar etwas gelblich, aber die Schärfe der Projektion ist immer noch besser als bei jeder Fulldome-Projektion.

Das komplette Album von "Galactic Underground" spielt Johan an diesem Abend nicht. Einige Tracks, zu denen Roksana Vikaluk und Erik Wollo Teile beigesteuert haben, bleiben außen vor, ihr Gesang bzw. Gitarre hätte nur "aus der Dose" kommen können. Das Album von Galactic Underground ist selbstverständlich an den CD-Ständen auch zu bekommen, und mit 3D-Brille und -Poster sticht es auch in der Aufmachung heraus.

Mit diesem dritten Konzert schließt das diesjährige "Cosmic Nights" Festival. Es werden noch Danksagungen an die Sponsoren verlesen, ohne deren Beiträge der freie Eintritt und die Bonus-CD wohl nicht möglich gewesen wäre. Viele bleiben noch für einen letzten Kaffee oder ein letztes Bier, sie haben vielleicht ohnehin ein Hotelzimmer in Brüssel gebucht. Das Pfingstwochenende hat gerade erst begonnen, eine Sightseeing-Tour in der Stadt bietet sich an. Alle Anderen nehmen auf den Rückweg die Erinnerung an ein sehr schönes Event mit. Drei Künstler haben an diesem Abend ihre Interpretation von "Berliner Schule" gezeigt, und dabei bewiesen, dass es auch in diesem Rahmen noch reichlich Variationsmöglichkeiten gibt. Ein Dank gilt auch der perfekten Organisation und der immer freundlichen und hilfsbereiten "Crew". Man darf gespannt sein, welche Location sie für das kommende Jahr auswählen wird. Ins Planetarium Brüssel wird "Cosmic Nights" frühestens im übernächsten Jahr zurückkehren.

Alfred Arnold

Über Empulsiv

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