33 Jahre in 180 Minuten: Johannes Schmoelling solo in Oirschot

Wir schreiben das Jahr 1985: Helmut Kohl ist gerade einmal seit drei Jahren Bundeskanzler, ich bin von meinem Abitur noch zwei Jahre entfernt, und Johannes Schmoelling verlässt Tangerine Dream, um eine Solo-Karriere zu beginnen. Man sollte es nicht für möglich halten, aber in den 33 Jahren, die seitdem vergangen sind, ist eine lange und beeindruckende Liste von Studioalben zusammengekommen, aber noch kein einziges Solo-Konzert. Das soll sich an diesem Abend ändern. "Zeit - From Wuivent Riet to The Immortal Tourist" ist der ambitionierte Titel des Konzerts, ein Brückenschlag von seinem ersten Solo-Album bis zum aktuellen CD mit Robert Waters. Selbiger wird ihn heute auch auf der Bühne unterstützen.

Als Ort für diese Premiere hat sich Johannes "De Enck" in Oirschot und Ron Boots als Organisator ausgesucht. Eine bessere Wahl könnte man sich kaum denken: Mit E-Live und E-Day bringt Ron zweimal im Jahr ein ganztägiges Event über die Bühne, ohne dass ich mich an ernsthafte Pannen hätte erinnern können.

Heute sollen es nur zweimal knapp anderthalb Stunden sein, und dementsprechend fängt der "Tag" in Oirschot erst am Abend an: um 20 Uhr soll der erste Teil beginnen. Als ich gut eine Stunde vorher eintreffe, sind Foyer und Theatercafe bereits gut bevölkert. Gesprächsstoff gibt es genug, und auch wer Hunger hat, wird nicht im Stich gelassen: eine "Bitterballen-Garnitur" gibt es für drei der Plastikmünzen, die man noch aus früheren Jahren kennt. Vorsicht beim Verzehr: auch wenn sie sich von außen gut anfassen lassen, ist das Innere noch höllisch heiß.

Kaum bin ich mit meinen Bitterballen fertig, beginnt auch schon der Einlass, und man muss sich beeilen, einen guten Platz zu erhalten. Auch wenn "De Enck" nicht ausverkauft ist, füllt sich der Saal doch zu gut drei Vierteln. Der Vorhang ist noch geschlossen, und aus den Lautsprechern dringen sphärische Klänge zu uns, die von dem Ticken einer Uhr überlagert werden. Punkt acht Uhr leiten Glockenschläge das Konzert ein, und eine Stimme aus dem Off liefert einige philosophische Gedanken über die Zeit: Jeder Moment, den wir erleben, ist etwas einmaliges und kommt nie wieder. Mit der Spannung auf diese Weise auf den Höhepunkt getrieben, öffnet sich der Vorhang. Johannes hat seine Keyboard-Burg am rechten Rand aufgebaut, in der Mitte steht der große Konzertflügel. Wie schon bei den beiden Auftritten von Loom in Oirschot wird Johannes wohl auch heute mindestens eine rein akustische Passage spielen. Rob Waters hat seinen (deutlich übersichtlicheren) Arbeitsplatz im linken Drittel, beide rahmen gewissermaßen den Flügel ein.

Der Einsteiger ist direkt "Zeit" von der "Wuivent Riet". Bereits damals in der Studio-Version war es ein Track, den ich gerne und laut über Kopfhörer gehört habe - man konnte förmlich darin versinken. Hier und live ist er noch einmal eine Ecke druck- und kraftvoller. Gefolgt wird er von der ersten Überraschung: mit "Going West" eine Filmmusik, die noch aus Johannes' Zeit bei Tangerine Dream stammt. Dazu laufen die passenden Bilder aus "Flashpoint". Weiter geht es mit "Streethawk", einem anderen Soundtrack aus der gleichen Zeit. Auch wenn das bisher gespielte eigentlich perfekt klingt, scheint Johannes noch nicht ganz damit zufrieden zu sein: ein- oder zweimal sehe ich seinen Blick kurz gen Himmel gehen, als erwarte er von dort Beistand.

Nach drei Titeln wird das nachgeholt, was bisher gefehlt hat, nämlich die Ansage und Einführung. Ron darf heute sitzen bleiben, wie schon bei den Loom-Konzerten spricht Johannes die erklärenden Worte. Er hat sich lange Gedanken darüber gemacht, welches Thema er über ein solches Konzert stellen soll, und ist zu der Erkenntnis gekommen, dass "Zeit" für ihn über all die Jahre immer eine besondere Bedeutung gehabt hat. "Zeit" war der erste Titel, den er nach seinem Weggang von TD geschrieben hat, und so fand er es passend, das Konzert auch damit zu eröffnen.

Vielleicht ist eine kurze Strecke am Flügel ja der richtige Weg, um sich für den Rest des Konzerts freizuspielen. Klassische Musik und deren Komponisten haben für Johannes zu allen Zeiten großes Gewicht gehabt. Auch wenn es jetzt mit Johann Sebastian Bachs Klavierkonzert in A-Dur rein akustisch wird, bezeichnet er sich selber scherzhaft als der "elektrische JS". Für "Knee Play Nr. 9" braucht er nicht wieder aufzustehen. Diese Einlage am Flügel scheint geholfen zu haben, genauso wie der brausende Applaus, denn ab jetzt scheint Johannes sich deutlich wohler auf der Bühne zu fühlen.

Rob hatte während des Klaviersolos natürlich Pause, für den nächsten Titel kommt er wieder auf die Bühne. Die Überraschung: Es ist "White Eagle", mit der bekannteste Titel von Tangerine Dream und auch aus der "Schmoelling-Zeit". "White Eagle" ist schon auf vielfältige Weise neu interpretiert worden, und auch hier klingt es deutlich anders als seinerzeit auf dem gleichnamigen Album. Die 2018er-Variante klingt wärmer und voller, und gerade in der zweiten Hälfte wird der eine oder andere moderne Sound als Kontrapunkt gesetzt. Das muss nicht jedem Verfechter der "reinen Lehre" gefallen, aber wir hören ja heute in erster Linie ein Schmoelling-Konzert, und da hat Johannes das Recht, die Titel so zu interpretieren, wie er es heute für richtig hält.

Beeindruckend sind auf jeden Fall die Visuals zu "White Eagle": Bilder der Erdkugel wechseln sich mit einer Tänzerin ab, die den Flug des Adlers auf ihre Weise interpretiert. "White Eagle" schließt auch die erste Hälfte des Konzerts ab: wie die Schwingen eines Adlers schließt sich der Vorhang vor der Bühne.

Während der Pause kann man den Saal verlassen, muss man aber auch nicht. Viele bleiben auf den guten Plätzen, die sie einmal ergattert haben. Wird Johannes den Schwung aus der ersten Hälfte über die Pause retten können? Er kann, denn nach der Pause geht es gänzlich unerwartet weiter. Ein langer Track von fast einer Viertelstunde, der über weite Strecken improvisiert wirkt und einen gänzlich anderen Johannes zeigt: Befreit von den klassischen Regeln der Kompositorik, ersetzen harte und schroffe Klänge den melodischen Stil, für den er ansonsten so bekannt ist - ein Experiment, das Johannes vermutlich nicht direkt zu Anfang des Konzerts gewagt hätte, und das ihn sichtlich fordert. Nicht verwunderlich, dass er sich und dem Publikum im Anschluss mit "Matiora is Still Alive" eine Pause gönnt.

Von Johannes' erstem Album haben wir schon einige Titel gehört, jetzt ist es an der Zeit, den Sprung in die Gegenwart zu machen, nämlich zu "The Immortal Tourist". "Drop Anchor In The Present Time" darf man auch gerne als Motto für den Rest der zweiten Konzerthälfte stehen. Die endet mit "Time and Tide", was schon das eine oder andere Loom-Konzert beschlossen hat. Ein sichtlich geschaffter, aber genauso erleichterter Johannes Schmoelling tritt mit Robert Waters nach vorne und nimmt die stehenden Ovationen entgegen - etwas, was "De Enck" nicht immer gewährt wird. Jeder im Raum ist sich wohl der Denkwürdigkeit des Moments bewusst, und was für eine Überwindung es Johannes gekostet haben muss, dieses Konzert zu planen und durchzuführen.

Der stehende Applaus geht - wie zu erwarten - in jenes rhythmische Klatschen über, mit dem die Musiker zu einer Zugabe aufgefordert wird. Für die haben Johannes und Robert noch eine Überraschung in petto: "Tangram" in der vollständigen Version, wie Johannes es sich eigentlich vorgestellt hat, wie es aber noch nie gespielt wurde. Das setzt dem Konzert derart die Krone auf, dass noch eine zweite Zugabe drin sein muss. Die wird auf der Leinwand von einem aufgeschlagenen Buch begleitet, in dem allen Beteiligten Dank gesagt wird - dem Publikum mit eingeschlossen!

Mit zwei Zugaben muss es denn aber auch gut sein. Viele bleiben noch eine Weile im Foyer, gehen noch einmal zum CD-Stand oder lassen sich ihre mitgebrachten Alben von Johannes und Robert signieren. Der Bogen, der an diesem Abend geschlagen wurde, spannte sich weiter als von "Wuivent Riet" bis zu "The Immortal Tourist". Ähnlich wie bei anderen Musikern, die eine Weile bei einer berühmten Band Mitglied waren, reicht auch bei Johannes Schmoelling der Schatten von Tangerine Dream in seine Solo-Zeit hinein. So gesehen waren es heute fast 40 Jahre in 180 Minuten. Was aber wichtig ist: bei Johannes wird der Schatten der Vergangenheit nicht übermächtig, er ist nur eine Facette einer jahrzehntelangen Karriere. Dass es in all den Jahren vorher nie zu einem Solokonzert gereicht hat, das überrascht im Nachhinein. Aber jetzt ist hoffentlich das "Eis gebrochen" und es wird nicht das letzte Konzert gewesen sein. Es müssen ja auch nicht immer 33 Jahre in 180 Minuten sein.

Alfred Arnold