EM in Hollands Norden

Die Niederlande sind größer als man denkt. Von Aachen aus sieht man mit Süd-Limburg nur einen kleine Zipfel, und Eindhoven im Süden des Landes ist auch nur eine Auto-Stunde entfernt. Es lohnt sich aber, den Blick auch weiter in den Norden schweifen zu lassen, genauer gesagt nach Groningen. Das liegt etwa auf gleicher Höhe wie Bremen und ich brauche von Aachen aus schon knapp dreieinhalb Stunden, bis ich die "Musik Organisation Nordholland" erreicht habe, wo wie auch schon in den Vorjahren die "Electric Spectrum Experience" stattfindet.

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Die erste Erkenntnis: Autofahrer in Groningen müssen recht zufriedene Menschen sein, zumindest was die Benzinpreise angeht. Benzin ist in den Niederlanden eher teuer, gegenüber einer deutschen Tankstelle bezahlt man schon einmal dreißig Cent mehr pro Liter. Also hatte ich vorgeplant, im Kofferraum steht ein Reservekansister, der zusammen mit einem vollen Tank für einmal Groningen und zurück reichen wird. Doch schon die erste Tankstelle hinter der Abfahrt wirbt mit einem Preis, der nur einen knappen Groschen über deutschem Niveau liegt - dafür werde ich beim nächsten Mal nicht mehr den Aufwand mit Kanister machen.

Die "Musik Organisation Nordholland" ist eine kleine, aber feine Location mit gepflegter Bühne, übermannshohen Boxen, Bar und einem Aufnahmestudio, das man als Musiker mieten kann - Plakate werben mit Aufnahmepreisen im zweistelligen Bereich. Der Besuch ist merklich besser als im Vorjahr, liegt das vielleicht am heutigen Line-up? Immerhin steht René van der Wouden auf der Liste, dessen letzter Live-Auftritt schon einige Jahre her ist. Neben deutschen Gästen ist auch Besuch aus England und Russland da. Spätestens als mir "Skoulaman" Hans van Kroonenburg von seiner USA-Tour und den dortigen Maßstäben für "nah" und "fern" erzählt, kommen mir meine 350 Kilometer wie ein Katzensprung vor.

Der Eintritt ist mit fünf Euro quasi geschenkt, und auch der wird auf Vertrauensbasis erhoben: am Eingang steht ein schlichtes Plastikkästchen, in das ein Schlitz geschnitten wurde. Darüber hinausgehende Spenden sind natürlich gerne gesehen, aber selbst wenn einige der zirka 40 Besucher aufgerundet haben, wird es für die Künstler nicht für mehr als das Spritgeld reichen, selbst zu Groninger Tarifen. Der Schwerpunkt liegt hier auf Spaß und Sammeln von Erfahrung, sowohl fürs Publikum als auch für die Musiker.

Ungeachtet dessen braucht jedes Event einen Ansager. Dieses Mal ist es mit Leonardo Soundweaver, der auch als "Son of Ohm" firmiert, einer der Musiker selber. Dass vor einem internationalen Publikum gespielt wird, das hat man schon registriert: neben Holländisch wird auch auf Englisch und Deutsch begrüßt. Viele Worte macht Leonardo aber nicht - lasst die Musik sprechen!

Den Anfang macht Bert Hülshoff, allgemein unter dem Künstlernamen "Phrozenlight" und für seinen erstaunlichen kreativen Output (pro Jahr mehr als ein Dutzend Alben auf Bandcamp!) bekannt. Der Einstieg in den Tag wird ambient und meditativ: Bert entfaltet ganz entspannt und relaxt seine Klangwelten, begleitet von fast schon psyschedelischen Visuals auf der Leinwand. Nach einer Viertelstunde kommen spacige Sound hinzu, so als ob R2-D2 irgendwo um die Ecke stehen würde.

Leider ist die Meditation nach weiteren zehn Minuten schon wieder vorbei - wenn ein halbes Dutzend Konzerte an einem Nachmittag laufen sollen, dürfen sie nicht allzu lang sein. Die Pause ist dafür mit nur fünf Minuten so kurz, dass "Son of Ohm" die ambiente Atmosphäre fast nahtlos weiterführen kann, wie Bert sie begonnen hatte: Klänge aus dem Äther und leise verzerrte Musik erzeugen ein Gefühl, als ob man auf Mittelwelle einen Sender sucht - eine Assoziation, die aber vermutlich nur die Älteren unter dem Publikum noch nachempfinden können. Ganz langsam kommt auch die erste Sequenz dazu, und als die "steht", ist die Hand frei für die Gitarre - Leonardo hat fast so viele Gitarren-Effektgeräte wie sonstige Elektronik mitgebracht. Wir sind jetzt mitten in den 70ern, als Tangerine Dream "Rubycon" aufgenommen hat, und die Zeitreise geht weiter zurück in die Vergangenheit: es wird psychedelisch, und Leonardo ist so im Tunnel, dass er einen Moment lang gar nicht bemerkt, dass das begleitende Video zu Ende ist - gar nicht so leicht, aus so einer Session auszusteigen!

Es muss aber irgendwie gehen, denn der Zeitplan gibt vor, dass nach einer weiteren Mini-Pause das dritte Konzert des ersten Blocks ansteht: Aus "Phrozenlight" plus "Leonardo Soundweaver" wird jetzt "Phrozen Weaver". Dass Leonardo und Bert die gleiche musikalische "Sprache" sprechen, das dürfte nach den ersten beiden Konzerten klar sein. Leonardo kündigt jedenfalls eine "reine Improvisation" an, bei der Bert - gefühlt - erst einmal die Richtung vorgibt. Leonardo untermauert das dann mit einer Sequenz. Die Visuals zeigen dieses Mal Fabelwesen und Fantasy-Motive, zusammen mit den Klängen ergibt das ein Bild einer dunklen und ein wenig dystopischen Welt. Aus der holen Bert und Leonardo uns aber auch wieder heraus: Orgelklänge beenden den ersten Konzertblock und entlassen uns in die erste "längere" Pause des Tages: eine Viertelstunde reicht für einen Kaffee, oder auch ein schnelles "Rauchopfer" draußen.

Nach der Pause steht mit Albert Steenbergen ein Künstler auf der Bühne, der für mich noch ein völlig unbeschriebenes Blatt ist. Mit fetten Sounds leitet er sein Konzert ein, und es wird eines der Kontraste: zarte Melodien wechseln sich mit massigen Passagen ab, die gleich darauf wieder von Jarre-artigen Titeln abgelöst werden. Der Kontrast zu den ersten drei Konzerten, wo ein Motiv kontinuierlich weiter entwickelt wurde, könnte kaum größer sein. Dabei verlässt Albert sich komplett auf die Wirkung seiner Musik, auf Visuals verzichtet er. Mit ihrem episodenhaften Stil kann man sie sich aber problemlos als Soundtrack zu einem Film vorstellen. Leider ist dieser gedachte Film schon nach einer halben Stunde zu Ende, ich hätte davon gerne mehr gehört.

Die Zeit bleibt aber nicht stehen, und jetzt ist es Zeit für den Haupt-Act des Tages, zumindest gemessen an der angesetzten Länge: René van der Wouden war einige Jahre nicht mehr "live" zu sehen, und für sein Bühnen-Comeback möchte er etwas neues ausprobieren: Leonardo kündigt ein "Ambient-Set" an. "Ambient" ist natürlich ein weites Feld, und René wird im folgenden diesen Begriff besonders weit dehnen: Anstatt ein oder zwei lange, sich langsam entwickelnde Titel reiht er einzelne, recht klar abgegrenzte "Szenen" aneinander. Jede Szene ist um ein einzelnes Motiv herum aufgebaut und hat ihren eigenen Stil: mal minimalistisch, mal opulent, mal sphärisch, mal melodisch-rhythmisch. Und immer wieder kommt auch der Stil durch, den man von Renés früheren Alben kennt. Die Sache scheint René Spaß zu machen, denn als die letzte Szene "über die Bühne" ist, ist über eine Stunde vergangen - streng nach Zeitplan hätte eigentlich jetzt schon der Abschluss-Jam laufen sollen. Aber wie kann man jemanden unterbrechen, der gerade so im "Flow" ist? René hat die Sache offensichtlich Spaß gemacht. Es wäre schön, würde man ihn in Zukunft wieder öfter auf einer Bühne sehen.

Auch wenn der Zeitplan jetzt massiv "hängt", es ist in der Pause noch Zeit genug, einen sechsten Musikus mit in das Geschehen einzubauen: Unter den Gästen des Tages ist auch Ansgar Stock, mit gerade einmal zehn Jahren mit Abstand der jüngste Musiker in der Szene. Ihm macht die Musik aber schon so viel Spaß, dass er nie ohne ein Stück "Hardware" außer Haus geht. Und heute macht sich das bezahlt: Ein freier Eingang am Mischpult für seinen Micro-Korg ist schnell gefunden, und los kann es mit dem Abschluss-Jam gehen.

Bei so einer Session, wo Vertreter ganz unterschiedlicher Stile zusammenkommen, ist es naturgemäß unbestimmt, was dabei herauskommt. Einer stellt eine Idee in den Raum, andere gehen darauf ein, geben eine Antwort oder klinken sich auch einmal für ein paar Minuten aus. Ein bunter Mix aus spacigen bis sakralen Sounds ist das Ergebnis, an vielerlei Stellen vielleicht nicht perfekt ausgearbeitet, dafür aber zu einhundert Prozent authentisch und garantiert nicht wiederholbar. Das passt aber sehr gut zu dem, was die Organisatoren von "Electric Spectrum Experience" früher einmal über sich gesagt haben: Hollands (EM-)Norden hat seinen eigenen Klang, und der unterscheidet sich von dem, was schon einmal mit "Eindhovener Schule" umschrieben wurde. Die Musik ist härter, ungeschliffener, und näher an dem, was die Pioniere der EM in den 70er-Jahren gemacht haben.

Eine gute halbe Stunde geht der "Jam" in diesem Stil, und er war auch das "letzte Liedchen", wie Leonardo in seiner Verabschiedung meint. Naja, gesungen wurde am heutigen Tag eigentlich nicht. Dem Zeitplan hängen wir immer noch um eine gute halbe Stunde hinterher, aber Raum und Bühne waren wohl noch mit genug Reserve angemietet. Außerdem war gestern gerade der längste Tag des Jahres - wenn ich in Aachen wieder ankomme, wird es gerade erst anfangen zu dämmern. So ist die "Electric Spectrum Experience" in vielerlei Hinsicht das etwas andere Event. Hoffen wir, dass die Organisatoren auch im nächsten Jahr wieder den Schwung und Idealismus aufbringen werden, Fans und Musiker in Hollands Norden zu ziehen.

Alfred Arnold