Ein Anfang, wo das Ende war

Anderthalb Jahre Pandemie und Lockdown lassen viele Erinnerungen wie durch eine Milchglassscheibe verblassen. Wenn ich mich recht entsinne, war eines der letzten Events, über das ich berichtet hatte, bevor das Corona-Unheil über die Szene herein brach, im Januar letzten Jahres in Solingen. So ist es durchaus bemerkenswert, dass just in den Solinger Güterhallen diese trübe Zeit (vorerst) ihr Ende findet. Norbert Sarrazin und seine Mitstreiter haben sich eine Event-Form ausgedacht, die den ersten, vorsichtig tastenden Schritten aus der Zwangspause angemessen ist.

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Um genau zu sein, finden diese Schritte nicht in, sondern vor den Güterhallen statt: Der Umlauf um die Güterhallen dient dabei als Bühne, und das Publikum sitzt auf der Wiese vor den Gebäuden. Dabei ist man als Zuhörer zwar den Launen des Wettergotts ausgesetzt, im Gegenzug sind die Risiken und Einschränkungen kleiner. Offiziell ist dieses "Sommer Picknick Event" denn auch als Strassenmusik angemeldet. Das hat einen originellen Nebeneffekt, doch davon später. Um die Parallelen zum Januar 2020 auf die Spitze zu treiben, wird wie damals Klaus Buntrock spielen, nur heute vor dem Atelier, in dem er beim letzten Mal noch performt hatte.

Bis zum Konzertbeginn um 16 Uhr ist noch ein wenig Zeit, also was hat sich in den gut anderthalb Jahren geändert, die ich nicht im Solinger Südpark war? Die Güterhallen sehen noch so aus wie damals, an dem einen oder anderen Atelier hat sich natürlich das Türschild geändert. Das "Künstlerpack" nennt sich jetzt "Kunstraum", und auf der anderen Seite der Wiese verstellt ein im Bau befindlicher Beton-Kasten die frühere Aussicht. Nur mit viel gutem Willen könnte man ihn als Zitat der Bauhaus-Meisterhäuser interpretieren, die ich vor ein paar Wochen in meinem Urlaub in Dessau gesehen habe. Er soll aber heute nicht weiter stören, die Blicke werden heute ja in die andere Richtung gehen.

Nach so vielen Monaten nur mit Streaming-Konzerten ist das Picknick natürlich eine willkommene Gelegenheit, mal wieder mit denen zu sprechen, die man so lange nicht mehr gesehen hat, zuvorderst natürlich Norbert selber. Er klagt ein wenig sein Leid mit dem Ordnungsamt, das das Dekorieren der Bäume auf der Wiese nicht gestattet. So müssen die Kunstwerke, die dem Wetter und damit bewusst dem langsamen Verfall ausgesetzt werden, vor den Ateliers stehen oder vom Dach hängen. Neben diesem Picknick sind noch zwei weitere im August geplant, und je nachdem wie sich alles entwickelt, können es auch noch mehr werden - die Nachfrage bei Musikern ist wohl vorhanden.

Eine spannende Frage ist natürlich: Überwiegt die Neugier und der Hunger nach Live-Musik, oder angesichts wieder leicht steigender Inzidenzen die Angst? Die erfreuliche Antwort: die vorab aufgestellten Stühle reichen nicht, es müssen noch weitere herbeigeschafft werden, bis gut zwei Dutzend Besucher einen Sitzplatz haben, und auch während des Konzerts wird der eine oder andere neugierige Blick von vorbei Radelnden oder Wandernden auf das gehen, was in den letzten Monaten eine Rarität war: Live-Musik, ganz ohne Streaming und dazwischen geschaltetes Internet.

Das möchte auch Klaus nicht ohne ein paar einleitende Worte beginnen. Auch ihm ist die Parallelität der Events aufgefallen: Sein letztes Konzert hatte er in der Galerie gegeben, vor der er jetzt spielt. Ganz bescheiden und freundlich, wie er ist, erzählt er beinahe schon ein wenig entschuldigend, dass seine Musik eher rockig ist und nicht ganz der Stoff wäre, zu dem sich EM-Fans so gerne in andere Welten träumen. Aber letzten Endes träumt jede(r) von etwas anderem, und ich hatte auch Bekannte, die sich bei Heavy Metal entspannen können?

Viele Musiker haben den Lockdown und die Konzert-Zwangspause genutzt, um im Studio zu arbeiten und neue Alben zu produzieren. Klaus macht da keinen Unterschied: "Reticulum" heisst das neue Werk und der Einsteiger ist auch gleich ein Track davon. Klaus Buntrock bleibt seinem Stil treu - ich würde ihn am ehesten als Elektronik-Progrock einordnen, aber mit einem sanften und warmen Touch. Eine echte "Schublade" dafür fällt mir aber nicht ein, und das ist auch gut so: hier hat ein Musiker seinen eigenen und wiedererkennbaren Stil entwickelt. Als wollte Klaus das noch beweisen, folgen Titel der Vorgänger-Alben "Colors of the Universe" und "Space Cracks". Ersteres kenne ich noch von früheren Konzerten, und auch wenn die Titel live jedes Mal etwas anders klingen, ist der durchgängige Faden vorhanden.

Nach einer halben Stunde muss der leider kurz unterbrochen werden. Das ist der kleine Nachteil, wenn eine Veranstaltung als "Strassenmusik" angemeldet ist: Maximal eine halbe Stunde darf am Stück gespielt werden, und streng genommen müsste man danach auch den Standort wechseln. Reicht es, einen der Keyboard-Ständer zwei Meter nach links zu schieben? Für uns reicht die Zeit auf jeden Fall, etwas von dem mitgebrachten Proviant zu auszupacken, das ganze läuft ja unter dem Titel "Picknick". Bitte auch nicht vergessen: Ein kleiner Obulus in die Spenden-Dose. Für die hat sich Norbert etwas einfallen lassen: Der Korpus eines ehemaligen Gitarren-Basses hat genug Löcher und "Hohlraum". Ob daraus jemals wieder ein Instrument wird? Wer weiss, Norbert hat wohl einige solche "Baustellen" zu Hause herumstehen, und vielleicht wird dieses Objekt doch einmal wieder seinem ursprünglichen Zweck zugeführt. Wie schon auf Norberts T-Shirt zu lesen ist, kann man nie genug Gitarren haben.

A propos Gitarre: Die von Klaus hat während des ersten Teils unbenutzt neben den Keyboards gestanden, aber das wird sich im folgenden ändern. Der Einsteiger ist wieder von Klaus' neuestem Album "Reticulum": Ein solider Rhythmus und Bass mischen sich mit den Gitarren-Riffs. Das ist definitiv keine "Berliner Schule", aber trotzdem gut gemacht und schlüssig. Die Titel-Auswahl geht wieder quer über die Alben der letzten Jahre, jetzt natürlich mit einem Augenmerk darauf, ob die Live-Gitarre dazu passt. Mal tritt sie deutlich in den Vordergrund, dann wird sie wieder etwas zurückhaltender eingesetzt. Wie schon im ersten Teil, nimmt sich Klaus die Zeit, vor jedem Titel nicht nur Namen und Album zu nennen, sondern auch für ein paar weitere Anmerkungen. Die Malerei zum Beispiel ist neben der Musik seit ein paar Jahren ein weiteres künstlerisches "Standbein" von Klaus, alle Albencover der letzten Jahre stammen aus dieser Quelle. Der Titel des 2018er-Albums "Colors of the Universe" ist eine schöne Anspielung auf seinen Mal-Stil: sehr farbig, prinzipiell abstrakt, aber doch so, dass man sich darunter einen künstlerischen Blick ins Weltall vorstellen kann.

In zweiten Block kommt auch der Titel-Track von "Reticulum" zum Zuge, ein besonders langer und einer seiner Lieblings-Titel, wie Klaus in der Ansage erwähnt. Mit dem ist leider auch schon die nächste halbe Stunde "voll" - Norberts Einwurf "Wir müssen wieder Pause machen" beendet den zweiten Block, der übrigens eines genauso guten Publikums-Zuspruchs erfreuen durfte wie der erste.

Block Nummer drei fällt etwas kürzer aus - "es ist ja noch Fussball". Für drei weitere Titel ist aber noch Zeit, auch wieder einen davon mit Gitarre. Für den Abschluss hat Klaus sich aber etwas sanftes aufgehoben, nämlich ein Stück von Terra: "Into the Universe". Der Empfehlung "Passend zum Einschlafen" können wir aber noch nicht sofort folgen, wir haben ja alle noch einen Heimweg vor uns. Was aber geht, ist noch ein paar Alben zu erwerben und zu Hause auszuprobieren, wie gut das bei der Musik von Klaus oder Terra geht.

Es ist gerade einmal kurz nach 18 Uhr und noch eine Weile hell, als ich mich auf dem Heimweg mache - eine aus "Vor-Corona-Zeiten" eher seltene Erfahrung. Angesichts auch wieder steigender Inzidenzen will ich aber bescheiden bleiben und freue mich auch über solche kleineren Events - nur "Streaming und Chat" ist auf Dauer einfach nicht die emotionale Erfahrung, die Live-Musik bietet. Aller modernen Technik zum Trotz ist der persönliche Kontakt mit Gleichgesinnten und Musikern durch nichts zu ersetzen. Für den August sind noch zwei weitere "Picknick Events" geplant. Drücken wir die Daumen, dass man sich wieder vor dem Güterhallen wird sehen dürfen.

Alfred Arnold