Das doppelte Indoor-Picknick

Wenn ich hier die Erkenntnis zum Besten gebe, dass Live-Events trotz nicht mehr ganz so Corona-schwarzer Zeiten immer noch ein schwieriges Metier sind, dann werden die Veranstalter mir wohl mit gequältem Lächeln beipflichten: Es ist zwar nicht mehr völlig unmöglich, aber Beschränkungen und Regeln machen das Leben immer noch schwer. In Solingen hatten Norbert Sarrazin und seine Kunstraum-Truppe diese geschickt interpretiert, indem man Klaus Buntrock nicht in, sondern vor den Güterhallen spielen ließ und das ganze als "Strassenmusik" deklarierte. Der Nachteil bei der Sache: Publikum, Musiker und besonders deren Instrumente sind den Launen des Wettergottes ausgesetzt, und in dieser Hinsicht hat August 2021 sich als ein besonders unbeständiger Geselle herausgestellt. Für den 22.8. sollte die Sommer-Picknick-Reihe mit Stefan Erbe eine Fortsetzung finden, nur leider legten alle Wetterberichte nahe, dass dieses Unterfangen zum Scheitern verurteilt sein würde. Umso ärgerlicher war es, als sich der August an besagtem Sonntag-Nachmittag dann ausnahmsweise doch einmal von seiner trockenen und warmen Seite zeigte.

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Aber da war ja noch der Folgetermin am Sonntag darauf, für den Martin Stürtzer "gebucht" war, und von Martin ging spontan das Angebot an Stefan, ihm die erste Hälfte seines "Termins" abzugeben. Und so wurde aus dem, was als ein weiteres "Mini-Event" geplant war, ein für aktuelle Verhältnisse respektables Mini-Festival mit zwei Acts an einem Nachmittag. Nach den schlechten Erfahrungen mit dem Wetter und eventuellen Vorhersagen darüber hatte Norbert dieses Mal einen "Plan B" in petto, bei Regen in einem der Ateliers zu spielen. Die neue Corona-Verordnung des Landes NRW gestattet so etwas - in Grenzen - trotz hoher Inzidenz-Zahlen ja wieder. Es gelten nur die "3G-Regeln", will heissen, wer noch nicht geimpft ist oder eine Infektion überstanden hat, muss einen aktuellen Test mitbringen. Passenderweise war die Wahl auf das Atelier "Gleis 3" als Spielort gefallen, das Motto war also quasi "3G in G3".

Bereits am Vortag hatte sich angedeutet, dass der Wetterbericht dieses Mal recht behalten sollte, und so kam es dann auch: Am Nachmittag des 29. August 2021 zeigt der Sommer sich (wieder einmal) von seiner eher feuchten Seite und als ich am "Gleiss 3" ankomme, ist Stefan Erbe bereits dabei, seine Gerätschaften im Atelier aufzubauen. Eine kurze Kontrolle am Einlass, ob der mitgebrachte Corona-Test zum Personal-Ausweis passt, und ich darf hinein. Eintrittsgeld wird - wie meistens in Solingen - nicht verlangt, stattdessen wird während der Konzerte ein als Sammelbehälter zweckentfremdeter Gegenstand die Runde machen.

Stefan Erbe wird das erste Konzert um 15 Uhr bestreiten, von Martin Stürtzer ist noch nichts zu sehen. Das wird auch eine Weile so bleiben, denn Martin macht nicht nur elektronische Musik, sondern ist auch Kirchenorganist. Da ist der Sonntag natürlich der Tag mit den meisten Terminen, und wenn er hier in Solingen eintrudelt, wird Martin bereits zwei Auftritte hinter sich haben - ein viel beschäftigter und gefragter Mann!

Also schauen und hören wir erst einmal, was Stefan Erbe für diesen Nachmittag vorbereitet hat. Wie er das öfters bei Konzerten in kleinerem Kreis macht, setzt er sich erst mal vor seine Geräte und schildert in seiner launischen Art dem Kreis der nicht ganz so anonymen Elektronik-Fans die Vorgeschichte dieses Tages. Für den eigentlichen Termin am letzten Sonntag hatte er zwei Sets mit je einer knappen Stunde vorbereitet, das musste er jetzt auf eines "eindampfen". Der Vorschlag aus dem Publikum, doch einfach erst mal beide Sets vorzuspielen und danach die Hörer entscheiden zu lassen, welcher Set ins Konzert kommt, ist zwar bestechend, aber leider doch nicht umsetzbar.

Die Hauptsache aber ist, man kann endlich überhaupt einmal wieder live spielen! Streaming-Konzerte sind zwar auch eine feine Sache, und mit seiner virtuellen Neuauflage des RaumZeit-Festivals hat Stefan diesen eine neue Qualität hinzugefügt. Hier vor "echtem" Publikum mit direktem Feedback zu agieren, ist dann aber doch noch einmal etwas ganz anderes.

Auf die sonst üblichen Visuals müssen wir heute ausnahmsweise einmal verzichten. Stattdessen müssen wir alleine anhand des Gehörten herausfinden, welche Tracks Stefan für die Reise durch das musikalische Erbe-Universum der letzten Jahre gewählt hat. Angesichts der Menge der Stationen, die da am Wegesrand anzusteuern wären, kann es nur eine Lösung geben: von jedem Album genau ein Track. Wir starten mit "No Return" von der "A-11", eines der Alben, die Stefan zusammen mit Steve Baltes aufgenommen hat. Steve ist in dem Duo normalerweise derjenige, der für den "Rumms" und Drive sorgt. Aber auch Stefans Solo-Version kann sich sehen - oder besser, hören - lassen. Ganz wie auf dem Album fällt "Cloudcontrol" aus, da hat für Stefan auch nach acht Jahren noch die perfekte Form, an der es nichts mehr zu feilen gibt - ihm entfährt danach eine leises "Hui", das im Applaus fast untergeht.

Weiter geht die Reise mit Engeln, "When Angels Travel" ist auch längst ein Erbe-Evergreen geworden. "Genesys" darf in dieser Reihe natürlich nicht fehlen, ebenso wenig wie "Serbenity" oder "Breathe". Die beiden letzteren kann man bisher nur als Download und nicht als physisches Album erwerben. Stefan macht den Freunden physischer Tonträger aber Hoffnung, dass das noch passieren kann. Es sind nur halt schwierige Zeiten, um eine CD-Auflage zu kalkulieren, gerade wenn es kaum Konzerte gibt und der EM-Fan bevorzugt nach dem Konzert die Brieftasche zückt.

Zum Abschluss ein kleiner Blick in die Zukunft, ein bisher unveröffentlichten Track: Wuchtige Bässe und komplexe Rhythmen vermitteln den Eindruck, dies wäre ein Ausschnitt aus einem größeren Opus. Wie von Stefan Erbe gewohnt, wird es nicht einfach die Fortsetzung des Existierenden sein, sondern seinem Gesamtwerk eine neue Facette hinzufügen. Wer das noch nicht kannte, hat in der letzten Stunde einen (kleinen) Einblick darin bekommen, alle anderen haben ein wenig in Erinnerungen geschwelgt.

Während des Konzerts hat sich eine andere Person fast unbemerkt durch den Hintereingang zum Publikum gesellt: Martin Stürtzer, der zweite Act dieses Tages, hat seine beiden Einsätze an der Kirchenorgel hinter sich gebracht (den letzten davon in Langenberg), und ist jetzt schnurstracks nach Solingen gekommen. All die Keyboards mussten über den Tag im Wagen warten. Stefan staunt nicht schlecht: "Was hast Du alles an Zeug?", als sie jetzt ausgepackt und in Windeseile aufgebaut werden. Martins Antwort darauf: "Das Schlimme ist, es sieht zu Hause gar nicht anders aus." Eine Sitzgelegenheit hat nicht mehr in den Wagen gepasst, da hilft Stefan aber gerne mit seinem Hocker aus - den findet Martin übrigens so bequem, dass er ihn auch während der abschließenden gemeinsamen Zugabe nicht mehr herausrücken wird.

Die nächste Stunde gehört aber erst einmal Martin alleine: Aus Erfahrung weiss er, dass man sich auch für sein Equipment interessiert, also ein kleiner Überblick: Brandneue Synthies, die gerade seit ein paar Monaten auf dem Markt sind, aber auch ein Oberheim Expander, der beinahe sein eigenes "Baujahr" ist, das alles gesteuert von einem Mac Mini mit Mini-Bildschirm - Martin scheint noch sehr gute Augen zu haben.

Stilistisch kann Martin Stürtzer sich ja auch im Bereich der Elektronik in verschiedenen Bereichen bewegen. In der letzten Zeit liegt der Schwerpunkt aber auf Ambient und "Berliner Schule", da er darauf die größte Resonanz erfährt. Und abgesehen vom finanziellen Aspekt macht man ja auch selber das gerne, für das man positives Feedback erhält. So wird diese Stunde ein Leckerbissen für die Freunde langer Sequenzen. Martin erweist sich hier aber als echter Klangtüftler, der nicht einfach nur das nachzuahmen versucht, was andere große Namen vor Jahrzehnten kreiert haben. Clever gemacht, kann man auch mit Sequenzen so gestalten, dass sie auch in längeren Tracks nie langweilig werden und einen Stimmungsbogen erzeugen. So wird ein wuchtiger Einstieg von entspannenderen Passagen abgelöst, die ihrerseits dann wieder einem schon fast bedrohlich klingenden Klangbild Platz machen müssen. In so einer Leistung zeigt sich für mich die eigentliche Kunst bei Sequenzen-basierter Musik, und die Art, wie man sie heute noch weiter entwickeln kann. Erstaunlich ist dabei einerseits die "Geschäftigkeit" Martins an den Reglern, und anderseits stimmige und kontinuierliche Ergebnis - keine harten Brüche. Eine kurze Atempause, die Martin sich dabei gönnt, nutzen die Zuhörer für einen Zwischenapplaus. Ob ihn das noch einmal anspornt? Jedenfalls geht es danach noch einen Tick beschwingter weiter, und und im letzten Track nimmt er sich auch an eine Stimme als weitere Spur hinzu - das könnte ich mir gut als Musik zu einer Naturdokumentation vorstellen.

So wie Martin zu Beginn ein paar Worte gesagt hat, so lässt er auch das Ende seines Auftritts nicht unkommentiert. Er erzählt, wie sehr ihm dieses Konzert Spaß gemacht hat, nachdem in der letzten Zeit ein paar Gigs nicht so gut gelaufen waren. Auch finanziell ist dieser Nachmittag ergiebig: Neben dem mit Spenden gefüllten Hut wird Martin fast seine ganzen mitgebrachten CDs los - da ist Stefan schon fast ein wenig neidisch.

Für die noch anstehende gemeinsame Zugabe muss Martin noch ein wenig umverkabeln, was Stefan für eine Solo-Zugabe nutzt. "s-thetic" ist bei Baltes & Erbe-Konzerten ja quasi schon als Zugabe gesetzt, und hier bekommen wir jetzt Stefans Solo-Version, wie man sie von der "2club Genetica" kennt. Wie schon bei "No Return" probiert Stefan hier einige neue Rhythmen und Beats aus - wer nicht dabei war, wird es wohl so auch nie wieder zu Gehör bekommen. Nach dem wohl verdienten Applaus kommt von Martin die Info, er wäre bereit, und wie es sich für einen examinierten Musiker gehört, die Ansage der Tonlage: "Wir spielen in D". Rückfrage von Stefan: "Sind das die weissen oder die schwarzen Tasten?" Lieber Stefan, auch wenn Du die Sache vielleicht etwas intuitiver angehst, stellst Du Dein Licht jetzt doch ganz weit unter den Scheffel.

... also versuchen wir es mal mit Arbeitsteilung: Martin liefert mit den Sequenzen die Basis, und Stefan improvisiert darüber das von ihm bekannte Piano-Spiel, garniert mit ein paar groovigen Sounds, die man so vom ihm auch noch nicht kennt. Haben wir hier ein neues Duo vor uns? Wer weiß, für die Nachwelt festgehalten hat das Ergebnis leider niemand. Auch hier gilt: Wer es nicht gesehen und gehört hat, hat es leider verpasst.

Die letzten Worte des Nachmittags kommen natürlich von Norbert Sarrazin, der dieses "Picknick" trotz aller Widrigkeiten und Umstände doch noch ermöglicht hat. Auch wenn dieses Doppelkonzert nicht das größte und fulminanteste war, dass der EM-Fan in den letzten Jahren gehört und gesehen hat, wird es für mich eines der Highlights des Jahres 2021 sein - ein Jahr, dass nach dem "Corona-Totalausfall" 2020 mit großen Hoffnungen und Wünschen begonnen hat, die bislang aber bestenfalls teilweise erfüllen konnte. Für ein "Resümee 2021" ist es natürlich noch zu früh, aber wie es auch immer ausfallen wird, es wird die Erkenntnis beinhalten, dass man sich auf die Güterhallen als Veranstaltungsort verlassen kann. Denn dort kommt zusammen, was man in diesen Zeiten braucht: Der passende Ort, das Engagement und der Durchhalte-Willen der Organisatoren, und die Musiker, die die Risiken mitgehen. Die Reihe "Sommer-Picknick 2021" ist vorbei, aber man wird sich auch 2022 wieder in Solingen am Südpark treffen.

Alfred Arnold