Der EM-Treffpunkt im Frühling - E-Day in Eindhoven

In vergangenen Herbst hatte Ron Boots zum ersten Mal nach zwei Jahren Corona-Zwangspause zu E-Live an neuem Ort einladen können. Premieren wecken immer die Neugierde, ähnlich wie bei Alben von Newcomern ist es aber beim zweiten Mal spannend, ob die Sache Bestand hat oder nicht. Diese Nagelprobe stand für Ron im Mai 2022 an, als nach E-Live im Herbst ein E-Day im Frühjahr angekündigt war, und zwar wieder wieder im NatLab in Eindhoven.

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Zwischenzeitlich gaben die Vorverkaufszahlen ein wenig Sorge zum Anlass. So ist es zwar seit Jahren schon so, dass der E-Day immer das etwas schwächer besuchte Event ist, aber wenige Wochen vor dem 14. Mai waren noch so wenige Tickets verkauft, dass Ron sich genötigt sah, mit zwei Gratis-CDs nach freier Wahl einen weiteren Anreiz zu setzen. Ob dies nun geholfen hat oder es einfach daran lag, dass im Schnitt kurzfristiger geordert wird, das wird nicht mehr herauszufinden sein. Keine zwei Wochen später äußerte Ron sich sehr zufrieden über den aktuellen Stand: Von den knapp 200 verfügbaren Tickets waren drei Viertel verkauft, was auf jeden Fall genug ist, um aus der Verlustzone heraus zu kommen.

Über die Location "NatLab" habe ich im Bericht über E-Live 2021 ja einiges geschrieben, was hier nicht wiederholt werden muss. Also nur in Kurzform: Das NatLab ist ein ehemaliges Forschungslabor von Philips, das zum Kultur- und Begegnungszentrum mit Sälen und Restaurants umgebaut wurde. Es liegt in unmittelbarer Nähe des Evoluon und bietet eine Reihe von Sälen verschiedener Größen, so dass man theoretisch ein Event bei Bedarf auch "skalieren" kann. Der Saal mittlerer Größe, den Ron auch dieses Mal gebucht hat, ließe sich zum Beispiel durch weitere Stuhlreihen problemlos um einige Dutzend Plätze erweitern.

Man erreicht diesen Saal über eine Treppe zum ersten Stock, und nach den üblichen Formalitäten (Abhaken auf der Gästeliste, Austeilen der Bändchen) findet man sich erst einmal im Foyer wieder. Der CD-Stand von Groove nimmt davon den größten Teil ein und offeriert sowohl Neuheiten als auch Klassiker und Sonderangebote. Wie man es von E-Day oder E-Live kennt, ist dies natürlich nicht der einzige CD-Stand. Am Stand von Spheric Music wird Robert Schroeders neuestes Wert "Spaces Of A Dream" prominent präsentiert, auf Nachfrage zieht Lambert aber auch einen raren Import von Tangerine Dreams 1981er-Soundtrack "Strange Behavior" hervor. Gleich Daneben hat Axel Stupplich neben dem kompletten Back-Catalog von Pyramid Peak und Pyramaxx auch seine brandneue Solo-CD "Singularity" dabei, und wieder einen Stand weiter zeigt Remys Label "Deserted Island Music" seine Neuerscheinungen.

Manikin Records darf in der Reihe der Stände natürlich nicht fehlen, die neue Sampler-CD "Third Decade" ist nach einigen Verzögerungen jetzt endlich aus dem Presswerk gekommen und zu erwerben. Ausnahmsweise muss Detlef Keller heute alleine die "Fahne" hochhalten: Mario Schönwälder spielt an diesem Wochenende mit Kontrollraum auf der Superbooth in Berlin. Diese Termin-Überschneidung ist von einigen Besuchern im Vorfeld bedauert worden, aber angesichts der Menge an Events im Frühjahr wohl nicht zu verhindern gewesen. Sehen wir es positiv: Die Szene lebt, und zwei Jahre Corona-Zwangspause haben keinen bleibenden Schaden angerichtet! Und wer daran immer noch zweifelt, drehe sich einfach mal um und schaue sich den Stand der belgischen EM-Szene an: Dort liegen Flyer für ein neues Festival Mitte Juli aus. Konzerte sind in den  Sommermonaten ansonsten dünn gesät, einen neuen Termin gerade dort zu platzieren, zeugt von einem gesunden Optimismus. Ganz bescheiden in der Ecke, aber nicht minder wichtig: Stefan Erbes Interview-Ecke für emPulsiv. Über den ganzen Tag wird er für EMpulsiv Aktive aus der Szene vor Mikrofon und Kamera holen und über den Stand und Planungen ausfragen. E-Day und E-Live sind dafür die idealen Orte, weil hier so viele Musiker aus so vielen Ecken zusammenkommen.

Rons Zeitplan hatte bereits reichlich Zeit vom Einlass bis zum ersten Konzert vorgesehen, aber jetzt zeigt sich, dass angesichts des Angebots im Foyer kaum alles auf einmal "abzugrasen" ist. Das macht nichts, es wird noch weitere Pausen geben, sichern wir uns erst einmal einen guten Platz für das erste Konzert, zu dem pünktlich eingelassen wird. Bevor Ron den ersten Act des Tages ankündigt, wäre noch eine generelle Information  weiterzugeben: Im Herbst auf E-Live hieß es noch, bezüglich der früheren Location in Oirschot wäre das letzte Wort noch nicht gesprochen. Das hat sich nun (leider) geklärt: "De Enck" wird nicht wieder eröffnet, alle diesbezüglichen Hoffnungen haben sich zerschlagen. Was für viele Jahre Heimat von E-Live und E-Day war, ist verkauft und wird zu Appartements umgebaut. Traurig ist das schon, aber es bestätigt die alte Weisheit, dass nichts im Leben ewig währt, und wer nicht zurück bleiben will, muss sich eben anpassen. 

Wenden wir uns erfreulicheren Dingen zu, nämlich dem ersten Konzert, das für Peter Dekker alias "Däcker" ein Heimspiel ist. Dessen Setup beeindruckt nicht nur durch die schiere Menge der Geräte, sondern auch deren Jahrgang: Diverse "historische Schätze", die anderswo nur als Museumsstück verstauben, sind bei Peter noch voll funktional und werden aktiv genutzt. Aber egal ob neues wie altes Equipment, es sind letzten Endes die
beiden Hände und der Kopf, die über das Ergebnis entscheiden!

Gleiches gilt natürlich auch für den Stil des damit Produzierten. Synthies aus vergangenen Jahrzehnten müssen nicht unbedingt etwas erzeugen, was auch nach dieser Epoche klingt - Peter entscheidet sich aber für diesen "klassischen" Einstieg: Piepsen und für sich stehende Sound-Effekte beginnen diesen Auftritt; langsam und schrittweise werden Sequenzen hinzugenommen, die erst nach einiger Zeit die Dichte erreichen, wie man sie von Peter Dekkers aktuellem Album "Pareidolia" kennt. Auch wenn er gerne einmal bei einem gefunden Zustand ein paar Minuten verharrt, so wird es doch nie langweilig - entweder kehren wir wieder zum Anfang zurück, der ein ein wenig an das Signale des ersten Sputnik erinnert, oder es passieren einmal ganz harte Schnitte und Brüche. Ob die wirklich Folge eines falsch gedrückten Knopfes sind, oder beabsichtigte Effekte, das wüsste nur Peter selber, aber ein wenig Geheimnis muss ja auch sein. Wirklich unerwartet ist die zum Ende eingemischte Melodie, die entweder ein altes Volkslied sein oder vom Jahrmarkt stammen könnte.

Parallel zur Musik laufen auf den Bildschirm Zeitrafferaufnahmen. Die zeigen mal einfach Wolken, oder auch den Blick aus dem Fenster eines Hochhauses auf Stadt und Autobahn - wer Peters Postings auf Facebook verfolgt, wird diese zu verschiedenen Tageszeiten aufgenommenen Ansichten kennen.

Mit einer guten Dreiviertel Stunde war das Konzert nicht allzu lange, aber es waren genug Ideen (und auch Mut!) enthalten, dass die Forderung nach einer Zugabe aufkommt. Die wird komplett improvisiert, und Peter lässt es zum Abschluss noch einmal "krachen": Chöre, satte Rhythmen, das könnte der Soundtrack zu einem Film sein. Auch das hat er drauf, und es erinnert an das Finale seines Auftritts mit Mäläskä neulich auf dem "Dutch Electronic Masters" Festival. Das weitet noch einmal das in diesem Auftritt gezeigte Spektrum, und ich bin gespannt, was Peter in seinem nächsten Konzert daraus macht, wenn ein paar der hier gespielten Themen noch ein wenig ausgearbeitet sind.

 Nach so einem breiten musikalischen Input fordert der Magen sein Recht. Die Pause bis zum zweiten Konzert ist kurz, aber für einen Snack niederländischer Art reicht es gerade so eben - extra für den E-Day ist wieder eine kleine Ecke mit Fritten, Tagessuppe und Do-it-Yourself Burgern aufgebaut worden. Und auch heute gilt: kein Bargeld, nur Kartenzahlung. Zusätzliche Gebühren für die Transaktion mit einer deutschen EC-Karte fallen nicht an, und die Bezahlung geht ohne Sucherei und Wechselgeld auch schneller.

Das ist auch gut so, denn die Zeit bis zum nächsten Konzert reicht auch so gerade eben, um eine Portion Fritten zu verdrücken. Die Tür zum Saal ist bereits offen, und Ron schickt sich bereits an, den ersten Act dieses Tages aus Deutschland anzukündigen. Schon in früheren Zeiten haben Pyramid Peak und Max Schiefele alias Maxxess regelmässig zusammen gearbeitet. Seit ein paar Jahren läuft diese Kooperation offiziell unter dem Namen "Pyramaxx" und es wurden bisher zwei Alben veröffentlicht. In diesem Projekt laufen ganz verschiedene Dinge zusammen: Maxxess zupft einen sehr flotten Darm, Pyramid Peak steht für klassische EM mit Melodie und Sequenzen, und Axel Stupplich solo hat in den letzten Jahren den einen oder anderen Ausflug in Richtung Ambient gewagt.

 Wo so viele Stilrichtungen aufeinander treffen, da muss jeder ein wenig auf den anderen zugehen, ansonsten gelingt das Experiment nicht. So hält Max sich in den ersten Titeln noch ein wenig mit seiner Gitarre zurück und treibt sich nicht gleich zu Höchstleistungen an. Das Ergebnis ist nichtsdestotrotz moderne und energiegeladene elektronische Musik, die sich nicht hinter den Werken bekannterer Namen verstecken muss. Im Publikum fällt das Stichwort "Pink Floyd", und in der Tat hat Axel das Cover von "Dark Side of the Moon" auf seinem T-Shirt. Aber hier wird nichts kopiert, der Stil ist ein eigenständiger. Nachdem Max bewiesen hat, dass er auch die "Feinarbeit" beherrscht, gibt er ab Track Nummer drei richtig Gas. Im Gegensatz zu Däcker gehen die Titel nicht ineinander über, nach jedem ist eine Kurze Pause zur Absprache, und bei jedem Mal wird das Grinsen auf Axels Gesicht breiter - da hat jemand sichtlich Spaß an dem, was er macht. Das Trio spielt sich förmlich in den Tunnel - einen Tunnel, dessen Ende viel zu schnell erreicht ist. Aber ob das wirklich schon das Ende gewesen sein soll, "das liegt alleine an Euch", meint Axel. Die Zugabe kommt im Vergleich zu den bisherigen Titeln fast leichtfüßig daher, und setzt dem Auftritt die Krone auf. Andreas Morsch, Axel Stupplich und Max Schiefele liegen sich verdientermaßen in den Armen. Wann kommt Album Nummer drei von Pyramaxx?

Diese und andere Fragen zu stellen, ist in der folgenden großen Pause genug Zeit. Die wird uns von dem "Pausen-Act" Gerry Havinga verkürzt, dessen Auftritt in einer Ecke des Foyers zwischen all den anderen Highlights vielleicht weniger Aufmerksamkeit bekommt als verdient: Auch wenn sein Setup vielleicht nicht die Ausmaße wie bei Peter Dekker erreicht, so ist er doch allemal sehenswert und Fragen dazu werden ziwschen den Stücken bereitwillig beantwortet - für etwas "Gear-Talk" von Musiker zu Musiker ist immer Zeit.

Die Pause wird dieses Mal aber auch im großen Saal benötigt: Ausnahmsweise konnten dieses Mal nicht alle Musiker bereits im Vorfeld aufbauen, dafür ist die Bühne im NatLab einfach nicht groß genug. Während wir uns im Foyer zwischen den Ständen herumtreiben, wird im Saal hart gearbeitet, das aufzubauen, was für die folgenden drei Acts gebraucht wird.

Aber wieso noch drei Acts? Normalerweise beschränkt Ron sich auf jeweils zwei davon vor und nach der großen Pause, plus einen kleineren, der im Foyer zwischendurch spielt. Aber außergewöhnliche Ereignisse erfordern außergewöhnliche Maßnahmen, und ein solches Ereignis ist dafür verantwortlich, dass Gerry seine Instrumente eine gute Dreiviertel Stunde früher ausschalten und abdecken kann:

Es ist keine zwei Wochen her, da schickte die Nachricht von Klaus Schulzes Tod Schockwellen durch die EM-Szene. Zwar hatte Klaus Live-Auftritte bereits vor einigen Jahren aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben, doch die Tatsache, dass erst kurz zuvor mit "Deus Arrakis" ein neues Studio-Album angekündigt worden war, nährte in der Szene die Hoffnung, dass er noch eine ganze Weile produktiv würde arbeiten können. Umso mehr schlug die Nachricht von seinem Tod wie eine Bombe ein, und lieferte - nachdem sich alle wieder etwas erholt hatten - den Aufhänger für ein Extra-Konzert.

Die überwiegende Zahl an EM-Musikern sehen Klaus Schulze als einen ihrer Ideengeber, wenn nicht sogar als den Anlass, sich selber dieser Art der Musik zu widmen. So auch Rob Papen, der an Ron Boots mit der Idee eines "Tributes" heran trat. Viele werden wissen, dass Rob sich auf der Bühne eher rar macht und nicht so gerne live spielt. Das ist umso mehr ein Beleg dafür, wie wichtig ihm die Sache ist. Im Vorwort erzählt Rob, dass er Klaus Schulze (der überlebensgroß von der großen Leinwand auf die Bühne herunter schaut) als einen der Gründungsväter der EM betrachtet, und jede(r) habe ein persönliches Lieblings-Schulze-Album. Ron hat bereits verraten, dass es bei ihm die "X" ist. Und bei Rob? Versuchen wir es im folgenden doch einfach mal heraus zu hören, denn das Grundkonzept für den folgenden Titel stammt von ihm.

Meine Vermutung geht in Richtung "Moondawn": Flächen und kosmische Sound-Effekte bilden den Einstieg für die Art von Stücken, mit denen Klaus in den 70ern eine ganze Schallplatten-Seite gefüllt hat. Schritt für Schritt kommt eine weitere Spur hinzu, der Sound wird dichter und dichter und zieht den Hörer unmerklich in den "Tunnel" hinein. Einmal auf "Betriebstemperatur" angekommen, improvisieren mal Ron und mal Rob eine minimalistische Melodie dazu. "Schulze Beyond" heißt dieser Titel, wie uns im Anschluss verraten wird. Gereicht er dem Meister auch als Ehrung? Ich denke ja: Die Konzepte in der EM, wie sie von Klaus mit "erfunden" wurde, sind klar erkennbar gewesen, aber es war kein einfaches "Nachspielen" eines bekannten Titels, wie man es bei "Tributes" bisweilen auch hört. Ron und Rob haben mit "ihren Sounds" einen Track gespielt, in den sich Klaus' "Geist" wieder findet. Das unterstreicht noch einmal das Zitat von Klaus Schulze, er könne nie zweimal das gleiche spielen.

Wo wir bei "nie zweimal das gleiche" sind: auch Ron schätzt auf seinen Festivals die Abwechslung, so dass für jeden Geschmack etwas dabei ist. War dieses Klaus Schulze Tribute eine Hommage an die 70er-Jahre, springen mit dem nächsten Act einige Jahrzehnte in Richtung Gegenwart. Steve Baltes ist ein Musiker, der in seinen Projekten ganz verschiedene Stile adressiert. Im letzten Dezember hatte er zum Beispiel auf "Hello 2022" im Bochumer Planetarium demonstriert, dass er seine Skills im Bereich "Drums und Rhythmus" auch sehr dosiert einzusetzen weiß. Dort hatte er zusammen mit Ron Boots als Teil von "Phase 3" gespielt, und diese Begegnung war für Ron auch der Anlass, Steve für seinen E-Day zu buchen.

Ich kenne Steve von seinen bisherigen Auftritten so, dass sein kompletter Aufbau in einen mittelgroßen Reisekoffer passt: Notebook, Ableton-Kontroller, ein oder zwei Mini-Keyboards und diverse, über einen Tisch verteile kleine Effekt-Geräte. Den Tisch gibt es heute auch, daneben aber noch zwei weitere Keyboard-Ständer - was erwartet uns heute noch?

Diese Frage muss noch eine Weile unbeantwortet bleiben, denn fürs Erste bleiben die meisten Keyboards ungenutzt, und Steve wirbelt in der von ihm gewohnten Weise zwischen den Knöpfen an vielen kleinen Kästen hin und her. Die einzige Gemeinsamkeit mit dem vorherigen Konzert: Auch hier dominieren die Flächen zum Einstieg. Aber Steves Flächen sind anders: Sie sind viel massiver und raumfüllender, fast schon bedrohlich. Mag man bei den Flächen klassischer EM irgendwo auf Wolken schweben, hier ist meine Assoziation die einer Wüste mit der alles dominierenden Hitze. Auf dieses Fundament setzt Steve ein Gebäude aus Rhythmen, das mich an den Baltes&Erbe-Titel "Basic Lifeform" erinnert: Eine Maschine, der sich nach und nach in Bewegung setzt, und mit jedem Wechsel der Tonart einen Gang höher schaltet. Auch die gerne von Steve eingesetzten Sprach-Samples sind wieder dabei; es zählt hier aber einzig und allein der Klang, und nicht das Gesagte. Fast hat man den Eindruck, Steve bekommt Probleme, mit dem von ihm selbst gesetzten Tempo mitzuhalten, denn ein ums andere Mal muss er sich dem Schweiß von der Stirn wischen. Nichtsdestotrotz wird das Tempo noch einmal einmal um ein oder zwei Gänge herauf geschaltet, bis das Stück seinen Höhepunkt erreicht hat.

 Auch der Abstieg vom Gipfel braucht wieder einen Moment, so hat dieser erste Titel über zwanzig Minuten des Auftritts belegt. Und jetzt erfahren wir auch den Zweck des weiteren Keyboard-Ständers: Steve Baltes und Peter Dekker kennen sich seit 1997, und wir werden im folgenden erleben, wie es klingt, wenn sie beide ihre Fähigkeiten zusammen in die Waagschale werfen: Den Einstieg gestaltet wieder Steve mit seinen Flächen, die aber dieses Mal weniger aggressiv wirken: Es ist Nacht geworden in der Wüste, alles hat sich ein wenig abgekühlt. Auch der Rhythmus wirkt weicher und zurückhaltender. Das ist auch sinnvoll, denn das gibt Peter dem Raum für seine Parts. Wie vor ein paar Monaten im Bochumer Planetarium zeigt Steve Baltes, dass er die Kraft seiner Instrumente auch dosiert einzusetzen weiß.

Stefan Erbe hatte zu Anfang des Konzertes in einer der vorderen Reihen Platz genommen. Steve und Stefan spielen seit vielen Jahren zusammen, und so hatte ich zuerst vermutet, dass Stefan einfach nur einmal sehen und hören wollte, was Steve solo auf die Bühne zeigt. Dem ist nicht so: Der Feststellung "Time for one more" lässt Steve die Aufruf folgen, für ein gemeinsames Stück nach vorne zu kommen. Ich hätte es eigentlich wissen müssen, denn hinter Steve hatte die ganze Zeit der Korg Wavestate bereit gestanden, von dem Stefan bereits auf dem letzten "Sound of Sky" reichlich Gebrauch gemacht hat. Und so bekommen wir zum Abschluss dieses Auftritts noch einige Minuten Baltes&Erbe. Deren letztes 'volles' Album liegt zwar bereits drei Jahre zurück, in Form der "Four Stories" sind aber einige Titel in neu gestalteter Form wieder veröffentlicht worden. Die dunklere und 'dronigere' Gestaltung passt sehr gut zu dem bisher gespielten. Meine einzige Kritik an diesem Part: Stefan steht hinter Steve und macht sich dabei ein wenig unscheinbarer, als sein Anteil an den Baltes&Erbe-Kompositionen eigentlich ist - ein Plätzchen neben Steve auf der Bühne wäre eigentlich passender gewesen. Aber sei es darum, danach dürfen sich beide ganz vorne in die Arme fallen, während sie den verdienten Applaus entgegen nehmen.

Für das letzte Konzert des Tages ist noch einmal eine Umbau-Pause erforderlich. Das Setup von AirSculpture steht zwar bereits, ist hinter den Aufbauten der vorherigen Acts aber kaum zu sehen. Üblicherweise geht das Abbauen schneller als Aufbauen, und bisher hat Ron den geplanten Zeitablauf (inklusive des Extra-Tributes) sehr gut einhalten können. Ganz am Ende scheint er ihm aber doch aus dem Ruder zu laufen: Die geplante Einlass-Zeit ist gekommen, ohne dass die Türen zum Saal sich wieder öffnen würden. Besucher, die neugierig den Kopf hinein strecken, werden wieder hinaus geschickt. Also vertreiben wir uns ein wenig die Zeit bei den CD-Ständen: Auch wenn die schon in früheren Pausen nach Neuheiten abgegrast worden sind, ein paar Anekdoten über Live-Pannen gehen immer, insbesondere wenn mit Detlef Keller und Stefan Erbe zwei alte Hasen im "Live-Geschäft" ihre Stände betreuen. Bei Dir hat mal ein Stuhlbein ein Video-Kabel massakriert? Mir ist mal eine Box auf ein Gerät gefallen und hat die Platine darin in zwei Teile zerbrochen. Ich musste das vor Ort mit einem Lötkolben und viel Draht wieder zusammenflicken!

Es kann schon vieles schief gehen, wenn man live spielt, und die Mehrheit des Publikums weiß das auch - deswegen wird auch kein Unmut laut, als es erst mit einer halben Stunde Verspätung weiter geht. Auf einer fast leeren Bühne stehend, kündigt Ron Boots Besuch von der Insel an: AirSculpture aus England ist normalerweise ein Trio, heute halten nur John Christian und Adrian Beasley den Union Jack in Eindhoven hoch. In diese Tatsache muss man übrigens nichts hinein interpretieren, wie John in der Pause zwischen den beiden Tracks versichert - es ist einfach der Brexit, der für Musiker vieles schwieriger und aufwendiger macht, egal auf welcher Seite des Ärmelkanals sie leben. Der Brexit ist auch die Ursache dafür, dass Adrian und John mit einem für AirSculpture-Verhältnisse bescheidenen Setup auftreten - jedes Instrument und jedes Keyboard muss zweimal durch den Zoll.

Ein weiterer ironischer Dank geht an das Virus, dessen Namen man nicht mehr erwähnen musste; John hatte sich vor ein paar Wochen damit angesteckt, was ihn bei seinen Vorbereitungen für diesen Abend deutlich zurück geworfen hatte.

Aber gerade Briten sind ja dafür bekannt, dass sie auch unter widrigen Umständen nicht aufgeben und einfach ihr Bestes geben. Und das stellen sie auch hier in Eindhoven unter Beweis: Hätte John nichts von den Problemen erwähnt, ich hätte auch keine vermutet, denn wir bekommen hier zwei Sets bester klassischer EM geboten, die und mit ihrem Wechsel zwischen hypnotischen Sequenzen und sphärigen Parts weit in die 70er-Jahre zurück versetzen. Will hier irgend jemand im Saal etwas vom Eurovision Song Contest hören oder sehen, der gerade parallel läuft? Natürlich nicht! Besonders der zweite Teil mit seinen dichten Sequenzen verdient das Prädikat "mitreißend" - und ich bin sicher, die beiden haben nicht deswegen so flott gespielt, damit sie noch fertig werden, bevor Ron uns alle hinaus wirft...

 Herausgeworfen worden ist man bei E-Day oder E-Live eigentlich noch nie. Auch wenn die meisten CD-Stände bereits abgebaut sind oder gerade zusammen gepackt wird, für ein letztes Bier ist immer noch Zeit, und für Verabredungen, wo man sich das nächste Mal sehen wird: Ist der Mai ein mit Events prall gefüllter Monat gewesen, so beginnt im Juni die Sommerpause und Urlaubszeit, in der es vergleichsweise still wird. Ron wird in die "Herbstsaison" in diesem Jahr vergleichsweise spät einsteigen. E-Live 2022 ist erst für den November geplant, dafür steht mit "Elektronische Maschine" bereits einer der Acts fest. Bedanken wir uns bis dahin bei Ron und seiner Crew, dass sie das "Schiff E-Live/E-Day" auch in schwierigen Zeiten auf Kurs halten haben und der EM-Szene weiter einen festen Anlaufpunkt geben. Ob es jetzt beim NatLab bleibt oder doch nicht: Auf "Kapitän Boots" können wir uns verlassen!

Alfred Arnold