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Großes in der großen Kirche - Remy und Ron Boots & Friends in Haarlem

Unweit von Amsterdam, der großen Hauptstadt der Niederlande, nur noch ein kleines Stück weiter Richtung Küste, liegt die etwas kleinere Stadt Haarlem. In Haarlem steht auf dem Marktplatz eine Kirche, die ob ihrer Ausmaße die "Grote Kerk" geheißen wird. An diesem Samstag stehe ich zum ersten Mal vor diesem Bauwerk, und der Grund dafür ist - wie sollte es bei einem Bericht in diesem Magazin auch anders sein - dass elektronische Musik heute in ihr erklingen wird. Die St. Bavo Kerk in Haarlem ist nämlich eine weitere Station auf dem sehr langen Weg, die originale Besetzung von "Phase 3" (Ron Boots, Ian Boddy und Harold van der Heijden) wieder auf der Bühne zu vereinigen. "Gastgeber" an diesem Abend wird Remy sein, der an diesem Abend auch aktiv sein und seinen Teil zu diesem Ereignis beitragen wird.

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Leider wird die St. Bavo Kerk nicht die letzte Station auf dem Weg zu einer Neuauflage von "Phase 3" sein. Dieses Mal war es nicht das Virus, das Ian Boddy an einer Reise über den Kanal hinderte, es waren seine Ärzte, die dringend von so einer Anstrengung abrieten. Also alles absagen? Dafür war der Termin an so einem besonderen Ort zu wertvoll, und zu viel Arbeit war bereits in Remys Konzert geflossen. Also machte Ron Boots das, womit er bereits dem Circus-Team vor ein paar Wochen ihr Event gerettet hatte: Er rief ein paar Freunde an, in diesem Fall Frank Dorittke und Stephan Whitlan. Zusammen mit Harold ergibt sich ein wohl bekanntes Quartett, was schon mehr als einmal die Bühne "gerockt" hat. Natürlich wird das etwas ganz anderes werden als "Phase 3", aber zweifelsohne ein würdiger Ersatz.

Da ich vorher noch nie in Haarlem war, investiere ich vorher noch ein oder zwei Stunden für einen Gang durch die Straßen und Sträßchen rund um den Marktplatz. Irgendwann finde ich dann auch eine, von der aus sich die Kirche mitsamt dem Marktständen davor aufnehmen lässt - siehe Aufmacherfoto. Es ist bereits später Nachmittag und die Marktstände werden gerade abgebaut.  Dass die Küste nicht weit entfernt ist, kann man auch daran erkennen, dass sich nicht nur Tauben um auf dem Boden liegen gebliebene Reste streiten: Von einem der umliegenden Hausdächer kann man das Gekreische von Möwen hören, die auf einen günstigen Moment zum Zugreifen warten, bevor die Stadtreinigung wieder "klar Schiff macht". Liegt doch noch etwas herum? Darum kümmert sich jetzt der Wettergott, der mit zwei ordentlichen Platzregen noch einmal feucht nachwischt. Es ist eben September und der Dauer-Hochsommer 2022 ist (zum Glück?) vorbei. Wer nicht Schirm und die passende Kleidung mit gebracht hat, sucht Unterstand und wartet sehnlichst auf Einlass in die Kirche.

Der soll um 19 Uhr sein, es vergeht aber noch eine weitere gute Viertelstunde, bis die Türen der St. Bavo Kerk sich für die anstehenden Gäste öffnen. Die Warteschlange ist zu diesem Zeitpunkt bereits auf etwa 50 Personen angewachsen, und am Ende wird gut das dreifache davon seinen Weg nach Haarlem gefunden haben. Das ist eine schöne Zahl für ein EM-Event, aber natürlich auch wieder nicht viel im Vergleich zu den Ausmaßen dieses Kirchenbaus. Das aufgebaute Instrumentarium und die Reihen mit Sitzplätzen wirken fast ein wenig verloren in dem Hauptschiff, und die Orgel, die an dessen Kopfende bis zur Decke reicht, lässt ohnehin alles andere klein aussehen. Der Chor macht gerade eine letzte Probe, und einige Keyboards sind noch mit Tüchern verhängt.

Neben den Keyboards hat sich noch jemand eine Ecke eingerichtet, der heute - ausnahmsweise - nicht musizieren wird: Bas Broekhuis, mit seinem "BYSS"-Studio in solchen Dingen erfahren, wird heute das Video-Streaming betreuen. Neben den 150 Zuschauern in der Kirche wird es also noch weitere in den Weiten des Internets geben. Der Stream wird als  Aufzeichnung erhalten bleiben.

Auch wenn der Einlass verspätet war, es ist noch reichlich Zeit bis zum Konzertbeginn und für Gespräche, oder sich mit dem einen oder anderen einzudecken. Irgendwo "da hinten" (hatte ich schon erwähnt, dass die Kirche wirklich groß ist?) ist der CD-Stand von Groove, und noch einmal weiter, fast in der anderen Ecke - die Bar! Aushänge hinter den Tischen deuten darauf hin, dass dies kein Provisorium, sondern eine Dauereinrichtung ist. Eine Bar in einem Gotteshaus? Andere Länder, andere Sitten, und ich habe unsere Nachbarn im Westen schon bei anderen Gelegenheiten als pragmatische und tolerante Zeitgenossen erlebt - da geht auch so etwas.

Remy bittet in seinen einleitenden Worten darum, ganz still zu sein, denn sein Konzert wird sehr leise beginnen. In der Tat sah das aufgeschlagene erste Notenblatt recht leer aus. Was nun passiert, ist aber noch verblüffender: Der Chorleiter dirigiert, aber vor leeren Stühlen und man hört eigentlich noch gar nichts. Erst ganz langsam wird der Chor hörbar, als er sich in einer Prozession der Bühne nähert und Position im Halbrund bezieht. Es wundert nicht, dass Remy diesen Auftritt viele Wochen lang geprobt hat, denn was hier aufgeführt wird, gehört mit Sicherheit nicht zum Standard-Repertoire eines Chors: Es ist weniger der Gesang, die Stimmen werden als weiteres Instrument eingesetzt, das zu den anderen, elektronisch erzeugten Klängen in Takt und Harmonie bleiben muss. Mal liefert die Elektronik die Basis für den Chor, dann hat er für einen Moment wieder Pause, und dann gibt es auch ab und an Moment, wo einzelne Chormitglieder mit vokalen Passagen in den Vordergrund treten. Aber auch dann sind das keine wirklichen Lieder, sondern einzelne Sätze, deren Sinn sich nicht beim ersten Hören erschließt.

Auf jeden Fall ist dem ersten Konzert des Abends anzumerken, dass es von einem Musiker mit klassischem Hintergrund gestaltet wurde. Zusammen mit der abgedunkelten Kirche, in der man sich klein vorkommt, ergibt das eine mystische und gleichzeitig feierliche Stimmung - dem Ort angemessen. Nach und nach werden die Klänge lauter und mächtiger, ein wenig so, als würde man aus der Dunkelheit ins Licht heraus treten - und da ist auch noch der Moment, wo eines der Chormitglieder das ganze Volumen seiner Stimme einsetzt und an Zeiten erinnert, wo man keine elektrischen Hilfsmittel hatte, um so einen Raum zu füllen.

Anfängliche Probleme mit dem Ton, inklusive eines kleinen "Reboots", konnte Remy zum Glück schnell überwinden, und so machen die Akteure, als das Abenteuer nach einer guten Dreiviertel Stunde zu Ende ist, mehr als zufriedene Gesichter und liegen sich zum Teil in den Armen. Für den Fan "reiner Elektronik" war "The Other Side" sicher ein Erlebnis, das noch eine Weile im Kopf nach hallen wird, bis man es verarbeitet hat, aber es war auf jeden Fall dem Spielort angemessen und eine ganz besondere Erfahrung. Lob und Glückwunsch an dieser Stelle schon einmal an Remy, so etwas anzugehen!

Die folgende Pause ist eine längere, Zeit sowohl für ein Getränk als auch den CD-Stand. Einige Zuschauer bekommen - neben den CDs, die Ron Boots am Eingang kostenlos verteilt hat - aber noch einen weiteren Silberling, ohne dafür zu bezahlen: Die neue "Schallplatte" des Schallwende-Vereins ist fertig, und da sie von Ron Boots gemastert und produziert wurde, hat er die Kartons mit den frisch gepressten CDs mit gebracht, um sie an den neuen Schallwende-Vorsitzenden Klaus-Ulrich Sommerfeld weiter zu geben.  Der wird die Kirche heute mit einem prall gefüllten Rollkoffer verlassen, und ist daher dankbar für jedes Exemplar, was er gleich vor Ort an Mitglieder verteilen kann - es spart dem Verein auch gleich etwas Porto und Verpackung.

Die Tücher wurden währenddessen von Stephan Whitlans Keyboards entfernt und blinken und leuchten in allen Farben, so wie es der an Hardware interessierte EM-Fan schätzt. Frank Dorittke hat sich auch schon in der Pause ein wenig "warm gespielt", und die Stuhlreihe des Chors ist fort geräumt. So kann Ron vortreten und noch einmal kurz erzählen, wie es dazu kommt, dass statt "Phase 3" jetzt "Ron Boots & Friends" auftreten. Ian Boddy geht es an sich gut, er muss sich nur im Moment etwas schonen, und es ist auch gut so, dass er sich an den Rat seiner Ärzte hält. Wir hoffen auf 2023...

Spielt Ron Boots alleine, so lässt er es die ersten Minuten gerne etwas langsamer angehen, bevor er richtig "Gas gibt". Nicht so an diesem Abend: Bereits im ersten Track rockt das Dreiländer-Quartett richtig los und demonstriert wieder einmal, wie gut Elektronik, Gitarre und Schlagzeug zusammen gehen. Ron und Harold sind Basis und Motor mit Drums und Sequenzen, darüber kann Frank ein Gitarrenspiel legen, das im ersten Erinnerungen an Pink Floyd erinnert. Das alles lässt trotzdem noch Raum für Stephans verspielte  Improvisationen, die man von seinen Solo-Alben kennt. Es ist immer wieder beeindruckend, wie gut diese vier sich über die Jahre aufeinander eingestellt haben, so dass eine solcher
Auftritt auch ohne große Vorbereitungen möglich ist.

In Titel Nummer zwei und drei gönnt man sich eine kleine Verschnaufpause, hier können Rons Sequenzen sich auch mal in den Vordergrund spielen. Danach beweist Frank, dass er nicht nur die harte Gangart beherrscht: Ein gefühlvoll-verträumtes Solo, sparsam instrumentiert, das sich nach und nach zu einer Rock'n'Roll-Ballade auswächst - ganz großes Kino in der Kirche! Und als wollten die vier uns nicht aus unseren Träumen reißen, fangen sie auch im Folgetitel erst einmal ganz sanft an. Der entfernte Rhythmus deutet aber schon Großes an, und wir werden nicht enttäuscht: Ein komplexer Takt, in dem die Gitarre ein Element bildet, anstelle sich in den Vordergrund zu drängen, und der wird über fast zehn Minuten kontinuierlich weiter entwickelt. So könnten Ashra klingen, wenn sie noch ein paar rockige Elemente in ihre Titel eingebaut hätten. Da fällt es schwer, die Füsse still am Boden zu halten!

Zum Abschluss darf Frank noch einmal zu Pink Floyd zurückkehren: Seine "Shine On Variations" sind mittlerweile auch so eine Art "Klassiker" und setzen den Schlusspunkt unter das zweite Konzert  des Abends. Es war (natürlich) etwas anderes als "Phase 3", aber niemand ist an diesem Abend traurig: Hier haben vier Musiker nicht nur ihre handwerklichen Fähigkeiten bewiesen, sie haben es dabei auch noch geschafft, über die einzelnen Tracks einen Spannungsbogen zu legen, so dass nichts wie Stückwerk wirkt - das könnte man eigentlich so auf CD pressen und verkaufen.

Kommt noch etwas? Aber ja, als dritter Teil ist eine Session angekündigt, in der Remy bei Ron einsteigen wird. Wieviel Zeit ist dafür noch? 25 Minuten, daraus lässt sich doch etwas machen. Ron Boots & Friends nehmen sich einfach etwas zurück, so dass Remy Raum bleibt, eine progressive Improvisation darüber zu legen. Dabei ist er übrigens nicht alleine: Auch der (vormalige) Chorleiter steigt mit am Flügel ein.

Fehlt noch was? Phil Booth, extra für dieses Event von der Insel herüber gekommen, hatte in der großen Pause angedeutet, dass auch noch die große Kirchenorgel ihren Raum bekommen würde. Und so ist es: Remy bespricht sich kurz mit Ron, um dann irgendwo in der Orgel zu verschwinden und "sein finales Solo" zu liefern. So kehren man am Ende des Abends auf gewisse Weise dorthin zurück, wo man vor ein paar Stunden beginnen hat. Ein sichtlich erleichterter und gelöster Remy grüßt zuerst von der Empore der Orgel, um dann Arm in Arm mit Ron vor den Zuschauern zu stehen, während der sich bei allen Mitwirkenden bedankt.

Nur eine Person will noch nicht ganz einsehen, dass der Abend zu Ende ist: Stephan kann der Versuchung einer großen Orgel dann doch nicht widerstehen. Und so begibt es sich, dass sein großes Science-Fiction/EM-Medley auf einmal durch die Kirche hallt, während wir uns verabschieden und uns austauschen, wo man sich das nächste Mal sehen wird. Es wird hoffentlich nicht wieder ein Jahrzehnt brauchen, bis das wieder hier in Haarlem in der Grote Kerk ist. Dieser Ort ist so besonders, und er fordert dazu heraus, die Spannbreite elektronischer Musik auch einmal in ungewohnte Richtungen auszuloten. Remy, Ron Boots and Friends, und der Chor haben das an diesem denkwürdigen Abend getan, und sie sind mit einem - für unsere kleine EM-Szene - sehr guten Zuschauer-Zuspruch belohnt worden. Und das nächste Mal heißt es dann vielleicht wirklich: "Remy & Phase 3 in Haarlem"!

Alfred Arnold

Über Empulsiv

Empulsiv wurde 2011 als Webzine für (traditionelle) elektronische Musik gegründet. Es berichtete über ein Jahrzehnt von musikalischen Events und über Veröffentlichungen, präsentierte Interviews und Neuigkeiten aus der Szene. Ende 2022 wurde das Webzine eingestellt. Es wird nun als Infoportal mit Eventkalendar, Linksammlung und Archiv fortgeführt, so dass Neues sowies Vergangenes weiterhin gefunden werden kann.