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Gelegenheiten nutzen - Filter-Kaffee in der Kunstkapelle Hemer

Man muss die Gelegenheiten beim Schopf packen, wenn sie sich bieten! Das dachte sich wohl Mario Schönwälder, als er vor einer Weile eine Episode von "Bares für Rares" im TV sah. Da tauchte ein Pärchen auf, das von sich erzählte, es würde eine Kunstkapelle in Iserlohn betreiben. Und schon wurde Mario hellhörig: Die müsste man mal kontaktieren! Gleich nach der Sendung wurde nach "PeRo" gegoogelt und ein Kontakt hergestellt. Der verlief überaus positiv, und so konnte er für "Filter-Kaffee" einen Termin in der Kunstkapelle Hemer ergattern.

Filter-Kaffee Hemer 25.10.2025

Hemer liegt ein Stück hinter Iserlohn, die Kapelle selber neben einem Friedhof und - wie bei Friedhöfen nicht ganz ungewöhnlich - ein wenig abgelegen. Der Zufall wollte es so, dass ich am Donnerstag in der gleichen Woche einen Termin beim Kieferchirurgen hatte, und von der 'aktiven Teilnahme am Verkehr' für die Tage darauf abgeraten wurde. Also dieses Mal mit öffentlichen Verkehrsmitteln? Immerhin nennt man ja ein teilweise vom Arbeitgeber gesponsertes Deutschlandticket sein eigen. Mit dreimal Umsteigen würde der Weg von Aachen nach Hemer prinzipiell zu bewältigen sein - aber der Rückweg in der Nacht von Samstag auf Sonntag erwies sich als schwieriger: Ein Ticket für den ICE lösen, oder ein paar Stunden Aufenthalt, bis wieder der erste Regionalexpress fährt?

Das ist der Moment, in dem man echten Respekt vor den EM-Fans bekommt, die zu allen Events mit Bus und Bahn kommen. In meinem Fall war Rudi Melchert der Retter in der Not: Der Düsseldorfer Hauptbahnhof läge für ihn auf dem Weg, ich müsste es nur bis dorthin mit der Bahn schaffen. Und am Abend hat man die Wahl, ob man über Köln oder Düsseldorf nach Aachen zurück fährt. Seit ich einmal vor ein paar Jahren um halb zwei Uhr Nachts in Mönchengladbach gestrandet war, achte ich bei Zugfahrten darauf, immer einen 'Plan B' zu haben.

Und in der Tat, die Bahn macht an diesem Samstag die Sache wieder spannend. Am Vortag kommt die Nachricht, dass der RE4 an diesem Wochenende komplett ausfallen wird - es wird also auf jeden Fall über Köln gehen.  Und auch auf diesem Wege komme ich mit einer Dreiviertel Stunde Verspätung in Düsseldorf an. Dafür konnte die Bahn aber eher nichts: Ballsport-Fans, die schon vor dem Spiel zwei Bier und einmal Kettenfett intus haben, tun sich halt schwer, so einfache Anweisungen wie 'Türbereiche freimachen' umzusetzen...

Das macht aber nichts, für den Hinweg habe ich genug Reserve eingeplant und das Rendevouz klappt ohne Probleme. Eine gute halbe Stunde vor Beginn treffen wir in Hemer ein. Die Kunstkapelle liegt ganz am Ende der Kantstrasse und direkt neben einem Friedhof, sie ist auch eine ehemalige Friedhofskapelle.

Den Namen "Kunstkapelle" hat sie sich verdient: Ein schöner und intimer Ort, an dem nicht nur Musik gespielt, sondern auch Kunst ausgestellt wird.  Einige Werke von der letzten Ausstellung hängen noch an den Wänden.  Die Künstlerin hat mit Light-Painting gearbeitet und ihre Lichtfiguren zum Beispiel vor den Reichstag und das Brandenburger Tor gezaubert; eine der Figuren hat aber auch Tropfsteine im Hintergrund. Das erinnert daran, dass der Weg mich in einem knappen Monat wieder in die Gegend führen wird, nämlich zur Dechenhöhle.

In ihren einführenden Worten erzählen Petra und Robert - davon leitet sich der Name "PeRo" ab - dass die Musik von Filter-Kaffee beim ersten Hören Gänsehautgefühle bei ihnen erzeugt hätte. Sie fanden auch, dass die Bilder gut passen würden, und so haben sie sie einfach hängen lassen. Wem sie ebenfalls gefallen: Auf Kalendern und Tassen kann man sie erwerben, rechts hinter der Bühne und gleich gegenüber der Bar. Dann löst auch schon die Musik von Filter-Kaffee das Wort ab:

Den Einstieg macht ein Titel von Filter-Kaffees aktuellem Album "106", nämlich "Den Tilltagande Stormen". Das passt zur Jahreszeit, denn der Herbst zeigt sich mittlerweile von seiner feuchten und kalten Seite.  Draußen sind es gerade einmal 6 Grad, und die ersten Stürme haben auch bereits über das Land gefegt. Hier drinnen ist es aber kuschelig warm, auch wenn die Heizung für das Konzert abgestellt wurde - ihr Geräusch soll die Klänge nicht stören. Die fangen ganz zart und leise mit Piano an, und werden erst nach und nach mit anderen Sounds unterfüttert.  Das ergibt eine Atmosphäre, bei der man durchaus an einen heranziehenden Sturm denken kann. Auch die Sequenz steigt irgendwann ein, aber anstatt uns hinfort zu blasen, werden wir sanft umfangen. Und so wie jeder Sturm irgendwann vorbei zieht, drosseln auch die Sounds irgendwann wieder ihr Volumen. Bas Broekhuis, heute am Lichtmischpult, dimmt dazu passend die Helligkeit herunter.

Ein wohl verdienter Applaus folgt, und nun ergreift Mario das Wort.  Ein Mikrofon ist auch bei ihm nicht nötig, in diesem Raum reicht die Kraft der eigenen Stimme. Gerne erzählt Mario den Besuchern - zur Hälfte nicht aus 'unserer' EM-Szene - noch einmal, wie es zu diesem Event gekommen ist, und für uns alle, was uns in den kommenden knapp zwei Stunden (mit Pause dazwischen) erwarten wird. Frank und Mario sind Kinder der 70er-Jahre, und ihr Projektname hat mit dem bevorzugt bei den Sessions genossenen Heissgetränk zu tun. Ein klassischer Melitta-Porzellanfilter - heute in der kleineren Ausführung 101 - steht neben Marios Aufbau.  Der zweite Track der ersten Hälfte wird ebenfalls vom aktuellen Album sein, und trägt den Titel "Kaltwasserhahn". Filter-Kaffee-Neulinge dürfen eine Viertelstunde darüber sinnieren, wie es zu diesem Titel gekommen ist. Wir 'Eingeweihten' kenne natürlich die Geschichte und dürfen stattdessen genauer hinhören, wie der Titel dieses Mal gespielt wird.  Das ist immer ein wenig anders, und heute fällt die elektronische Gitarre deutlich elektronischer und weniger 'akustisch' aus. Aber die Sequenz pulsiert wie in der Studio-Version, und so wie beim Vorbild aus den 70ern. Alles fließt, denke ich im Stillen bei mir, während Mario das Rätsel auflöst und erzählt, dass "Kaltwasserhahn" eben die bestmögliche Übersetzung von "Coldwater Canyon" war, die einem nach mehreren Tassen Kaffee einfallen kann...

Weiter geht es mit einem Titel, der dem aktuellen Album zwar nicht den Namen, aber doch das Cover beschert hat: Die Weltmaschine des Österreichers Franz Gsellmann war sein Lebenswerk, und obwohl er seinen Traumberuf Elektriker nie ergreifen konnte, hat er über Jahrzehnte in der Scheune an ihr gearbeitet. Eines Tages beschloss er, die Maschine sei vollendet, und verstarb in der Nacht darauf. Man könnte die Geschichte traurig finden, aber es ist auch ein Beispiel dafür, was man der Nachwelt hinterlassen und sich selbst verwirklichen kann - Gsellmanns Maschine funktioniert bis heute und kann besichtigt werden. Wie sich an ihr alles dreht, klappert und rasselt, hat Mario und Frank zum gleichnamigen Titel inspiriert. Geheimnisvoll und still fängt er an, und ich denke an den Begriff des "Ghost in the Machine", der sowohl uns Techniker als auch Musiker bisweilen zur Verzweiflung treiben kann. Aber bald fliegen bunt gemischte Sounds hin und her und illustrieren, wie sich an dieser Maschine alles dreht und bewegt.

Titel Nummer vier ist auch schon der letzte des ersten Teils - wie es sich für Fans der 70er gehört, haben alle Stücke zweistellige Laufzeiten.  Er stammt von dem ein paar Jahre älteren Album "103", und "Epsilon in a Dark Twilight" ist natürlich auch wieder eine Anspielung auf einen Klassiker aus den 70ern. Für den Namen passend, wird die Stimmung einige Grade dunkler, und die von Bas aufgestellten Lichter und elektrischen Flackerkerzen passen sehr gut dazu. Beinahe wird es sakral, und man könnte darüber nachdenken, dass in dieser Kapelle früher der Verstorbenen gedacht wurde, bevor sie gegenüber ihre letzte Ruhe fanden.

Trübe Gedanken und die gespielten Noten können sowohl Besucher als auch Musiker in der folgenden, halbstündigen Pause wieder vertreiben. An der Bar gibt es Bier, Wasser, Tee und Cola, und - selbstverständlich - klassisch per Filtertüte zubereiteten Kaffee. Der kommt hier aus der großen Pumpkanne, die üblicherweise in passenden Maschinen gefüllt werden. Die dazu passende Filter-Größe haben Frank und Mario noch nicht vertont, aber das steht als eines der nächsten Projekte auf der Roadmap. Ansonsten kreisen die Gespräche viel um das Thema KI. Angesichts des Outputs, den künstliche Intelligenzen sowohl in literarischer als auch klanglicher Form mittlerweile liefern, fragt sich der eine oder andere schon, warum man noch Musik macht oder Texte schreibt. Obwohl ich im IT-Umfeld beschäftigt bin, und KI mittlerweile auch Programmcode schreibt, habe ich selber das Thema bisher eher gestreift. Meine Meinung zu dem Thema ist für den Moment: KI 'kann' noch keine echte Kreativität, d.h. gänzlich neue Ideen entwickeln und Assoziationen finden. Sie kann sehr gut das Gelernte zu etwas Neuem zusammen mixen, und das Ergebnis ist sehr gefällig und konsumierbar. Sie zwingt uns, darüber nachzudenken, was kreativ ist und was letzten Endes doch nur Reproduktion von bereits Geschaffenen.

In die gleiche Kerbe haut Mario, als er kurz vor Ende der Pause von ein paar falsch gespielten Tönen in der ersten Hälfte erzählt, die aber letzten Endes das 'Salz in der Suppe' sind.  Robert macht noch ein kleines Interview mit Mario und fragt ihn darüber aus, wofür die ganzen Geräte seines Setups da sind. Mario kommt darüber ins Erzählen, wie er mit Musik angefangen und sich erst einmal auf die schwarzen Tasten beschränkt hat. Was sein Setup angeht, sind wir danach vielleicht nicht unbedingt klüger, aber um so besser unterhalten...

Auch der erste Titel der zweiten Hälfte ist wieder eine Anspielung auf die 70er: "The River of Decision" ist natürlich eine Anspielung auf die Entscheidung eines berühmten antiken  Feldherrn, und dann weiß man auch, welches TD-Album gemeint ist. Wie beim Original nimmt sich das Duo aus Berlin Zeit, bis die Sequenzen - oder die Truppen - aus dem Nebel auftauchen und sich in Marsch setzen. Bas passt den Moment ab und wechselt mit dem Licht auf einen Lila-Ton.

Die Heizung, die während der Pause ein wenig Wärme nachgeliefert hatte, ist übrigens wieder aus. Vorschläge, ihr Rauschen mit einzubauen, hatte Mario abschlägig beschieden: Filter-Kaffee wären eben doch nicht die Einstürzenden Neubauten...

Beim nächsten Titel, "Een Elektronisch Winterlandschap", würde das auch eher stören, denn jetzt wird es sehr ruhig. EM-Fans wissen natürlich, dass dies eine Anspielung auf Klaus Schulzes 1978er-Klassiker "Mirage" ist, und für die andere Hälfte der Besucher erzählt Mario die Geschichte von einem Klaus Schulze, der die Erwartungen seiner Plattenfirma damit seinerzeit bewusst kontrapunktiert hatte. Heraus gekommen ist dabei aber eines seiner besten Alben, und "Mirage" ist auch Marios Lieblingsalbum.  Dementsprechend eng hält sich Frank dieses Mal auch an die angestrebte Stimmung. Von seiner Seite kommen dieses Mal keine unerwarteten (und ungebetenen?) Sounds - für eine solche Einlage hatte Mario eben schon einmal mahnend den Zeigefinger gehoben, und dass man darüber noch einmal reden müsste. Die elektronische Winterlandschaft wird aber durch nichts gestört, und auch Bas findet wieder das passende Licht. Das ist wie immer bei Bas 'Fortografen-freundlich' und sorgt hoffentlich nicht nur bei mir für eine gute Bilder-Ausbeute von diesem Abend.

Das nächste Stück ist auch schon das letzte der zweiten Hälfte. Ob eine Zugabe gespielt wird oder nicht, wird sich natürlich an den anschließenden Reaktionen entscheiden. "Run to Catch  Your Thoughts" ist bisher unveröffentlicht, und es ist von keinem klassischen Vorbild inspiriert. Hier haben Frank und Mario einfach einmal 'frei von der Leber weg' gespielt und geschaut, was sich daraus ergibt. Die Sequenz ist rhythmisch, und vergleichsweise 'reduziert'. Ich habe die Assoziation von einem Gerüst, das nach und nach erweitert und ausgestaltet wird, und man bewegt sich von der Kälte wieder in die Wärme. Ob die endgültige Ausgestaltung auf einem zukünftigen Album genau so sein wird wie heute? Das ist eher unwahrscheinlich, und so genießen wir noch einmal einen Moment, der so nicht wieder kommen wird.

Mario lässt es sich nach dem Schlussapplaus nicht nehmen, einer Reihe von Personen seinen Dank auszusprechen: Petra und Robert, die Gastgeber des heutigen Abends, Bas am Licht-Mischpult, und Detlef Keller, der nicht nur den CD-Stand betreut hat, sondern auch 'Quartiermeister' ist: Die Reise wird am heutigen Abend nicht direkt nach Berlin, sondern nur nach Gladbeck gehen.

Und ja, der Wunsch nach einer Zugabe wurde deutlich genug artikuliert: "Divania" spielt auf kein Album, sondern auf ein Instrument an, und zum Finale zieht das Tempo noch einmal ordentlich an. Das könnte mit seiner Dramatik und dem Spannungsbogen schon Filmmusik sein, und auch den ansonsten so beherrschten und coolen Frank Rothe hält es nicht mehr auf dem Hocker: Er spielt im Stehen, bis ein paar elektronische (und dieses Mal geplante) Glockenschläge den Abend in Hemer endgültig beenden. Das eine oder andere Filter-Kaffee-Album wechselt noch den Besitzer und wird signiert, dann machen wir uns mit schönen Erinnerungen an diesen Abend auf den Heimweg. Der einzige Wermutstropfen: Er wird voraussichtlich keinen Nachfolger haben, denn Petra und Robert wurde der Vertrag zum Jahresende gekündigt - dieser Abend mit "Filter-Kaffee" war das vorerst letzte Konzert in der Kunstkapelle Hemer. Man sollte die Hoffnung indes nicht aufgeben: Vor ein paar Jahren war hier auch schon einmal beinahe Schluss, und als der Großteil des Mobiliars bereits verkauft oder anderweitig entsorgt war, gab es doch noch einmal eine zweite Chance. Und Chancen muss man beim Schopfe packen, um auf die Weisheit vom Anfang zurück zu kommen.

Das denke ich mir auch, als ich am Düsseldorfer Bahnhof auf den Bahnsteig komme und den abfahrbereiten RE1 nach Aachen erblicke. Ein guter Teil dieses Artikels ist bereits während der Fahrt ins Notebook geflossen. Natürlich wird es sowohl für Filter-Kaffee als auch für den Rest der 'Manikin 5' weiter gehen. Frank und Mario werden noch einmal in Berlin in diesem Jahr spielen, Michael kommende Woche in Krefeld und die Atelierroute im August ist - natürlich - bereits gebucht. Lassen wir uns überraschen, was für Gelegenheiten sich in 2026 sonst noch  ergeben werden!

Alfred Arnold

Über Empulsiv

Empulsiv wurde 2011 als Webzine für (traditionelle) elektronische Musik gegründet. Es berichtete über ein Jahrzehnt von musikalischen Events und über Veröffentlichungen, präsentierte Interviews und Neuigkeiten aus der Szene. Ende 2022 wurde das Webzine eingestellt. Es wird nun als Infoportal mit Eventkalendar, Linksammlung und Archiv fortgeführt, so dass Neues sowies Vergangenes weiterhin gefunden werden kann.