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Tangerine Dream in Duisburg: Massagesessel und ein eingelöstes Versprechen

Hatte der Dampfer "Tangerine Dream" durch Edgar Froeses Tod vor drei Jahren eine Vollbremsung hinlegen müssen, so hat er inzwischen wieder Kurs und Fahrt aufgenommen. Das Trio aus Thorsten Quaeschning, Hoshiko Yamane und Ulrich Schnauss wird von den Fans als würdige Fortführung des Projekts angenommen, ein gutes Dutzend Konzerte an den verschiedensten Orten in diesem Jahr sind ein Beleg dafür. Auch wenn man mir nachsagt, ich würde überall hinfahren, ein solches Pensum schaffe ich nicht, alleine aus zeitlichen Gründen. Als Tangerine Dream im letzten Monat in Dresden spielte, war das am gleichen Tag bei Sound of Sky in Bochum. Man muss sich für das eine oder andere entscheiden, und die Entfernung spielt dabei sicher auch eine Rolle.

So fahre ich auch an diesem Samstag mit einem lachenden und einem weinenden Auge nach Duisburg, denn am gleichen Abend gibt John Kerr zusammen mit Ron Boots in Best sein wahrscheinlich letztes Konzert. In diesem Fall war das Ticket für das TD-Konzert im Theater am Marientor einfach schon gekauft, als die Ankündigung von Ron Boots kam.

Das Theater am Marientor wurde vor ein paar Jahren speziell für das Musical "Les Miserables" gebaut und liegt in einem Stadtviertel Duisburgs, das ansonsten vielleicht nicht die "schönste Ecke" dieser Stadt ist. Mit seinem rundherum roten Anstrich sticht es dafür gleich heraus, fast so, als wäre es gerade erst auf dem Platz gelandet, und wertet die Gegend deutlich auf.

Wie es sich für ein "Samstagabend-Konzert" gehört, ist der Beginn für 20 Uhr angekündigt. Eine recht kurzfristig per E-Mail gekommene Nachricht sorgt aber dafür, dass ich schon am späten Nachmittag vor den Toren des Theaters am Marientor stehe. Bianca Froese begleitet die Band üblicherweise auf ihren Konzerten, und wenn sich die Gelegenheit bietet, wirbt sie auch gerne für Edgars Autobiographie, indem sie ein paar Kapitel daraus liest. Das klappt nicht immer, weil sich in der Location ein passender Platz dafür finden muss. Hier in Duisburg hat es recht kurzfristig geklappt, im Foyer im zweiten Stock ein Pult und Lautsprecher aufzustellen - Tische und Stühle von der benachbarten Bar sind ohnehin vorhanden und reichen für knapp 30 Besucher, die die Nachricht noch rechtzeitig erreicht hat und die es zeitlich einrichten konnten. Einige davon sind regelmäßige TD-Konzertbesucher und werden persönlich begrüßt. Bei der Gelegenheit können auch gleich ein paar Fragen zum Konzert am Abend beantwortet werden: Im Gegensatz zum Konzert in Hamburg im Februar gibt es keinen harten zeitlichen "Anschlag", das (auch schon fast obligatorische) Meet & Greet im Anschluss muss also kein abruptes Ende erfahren. Auch das Fotografieren während des Konzerts soll dieses Mal uneingeschränkt möglich sein, sofern man auf Blitzlicht verzichtet. Aber wer eine ordentliche Kamera hat, braucht das künstliche Gewitter ohnehin nicht.

Schön an diesen Lesungen ist, dass Bianca nicht immer die gleichen Kapitel auswählt. Die heutige "Zeitreise" beginnt 1983, als Tangerine Dream zum ersten Mal in Japan spielte. Diese Reise hinterließ bei Edgar nicht nur einen bleibenden Eindruck von japanischer Präzision. Auch die restliche Kultur und die Umgangsformen der Japaner haben ihn offensichtlich weit über diese Tournee hinaus beeinflusst.

Das zweite Kapitel spielt zwar im gleichen Jahr, die Umstände der Polen-Tournee könnten aber kaum in einem stärkeren Kontrast zum Hightech-Land Japan stehen: Es ist ein eisiger Winter und die Heizung in den Hotels funktioniert kaum, so dass man nachts Eisblumen an den Fenstern hat. Auf der Bühne ist es kaum wärmer, so dass man jedes Mal hoffen und beten muss, dass die Geräte bei diesen Temperaturen überhaupt funktionieren, von der ständig vom Ausfall bedrohten Stromversorgung gar nicht zu reden. Diese Tournee muss eine echte Tortur für alle Beteiligten gewesen sein, ein Umstand, von dem ich natürlich nichts wusste, als ich mir seinerzeit das "Poland"-Album gekauft habe.

Im dritten Teil geht es einige Jahre zurück, nämlich in die späten 60er, als Tangerine Dream noch gar nicht bestand und Edgar Froese mit seiner damaligen Band "The Ones" bei Salvador Dali zu einem Privatkonzert eingeladen war. Er kann dabei nicht nur einen (eigentlich verbotenen) Blick in das Studio des Meisters werfen, selbiger beantwortet ihm auch einige Fragen. Die Antworten - wie bei Dali nicht anders zu erwarten - etwas anders aus, als man sie vielleicht erwartet hätte.

Eine vierbeinige Person scheint diese Lesung übrigens nicht so zu interessieren - der Hund der Froeses ist auch im Foyer und versucht ein ums andere Mal, die Aufmerksamkeit von Bianca oder dem Publikum auf sich zu ziehen. Wer weiß, vielleicht kennt sie Geschichten schon in- und auswendig?

Im Anschluss ist noch Zeit für ein paar Fragen zu der Biographie. Wie Edgar sich Jahrzehnte später noch an einzelne Dialoge im Wortlaut hätte erinnern können? Er hat bereits damals ein Tagebuch geführt und sich fast täglich Notizen gemacht. Die hätten wohl auch gereicht, der Biographie noch weitere 400 Seiten hinzuzufügen, aber das wird wohl nicht passieren - ein zweiter Teil, in dem ein anderer Autor aus den vorhandenen Fragmenten weitere Kapitel erstellt, ist nicht geplant. Wieder auf der "Roadmap" nach vorne gerutscht ist ein anderes Projekt: Nach Etablierung des neuen Lineups, der Biographie und der Dokumentation soll es ein Museum zu Tangerine Dream geben, und wenn nicht das, so doch wenigstens eine Wanderausstellung. Dort könnten nicht nur "alte" TD-Fans in Erinnerungen schwelgen, auch nachwachsende Generationen von Musikhörern könnten etwas über die Wurzeln moderner EM-Spielarten erfahren.

Das eine oder andere Exemplar von "Force Majeure", wahlweise in Deutsch oder Englisch, wechselt nach der Lesung den Besitzer, und eine persönliche Widmung bekommen auch die Besucher, die ihr bereits früher gekauftes Exemplar mitgebracht haben. Meines liegt leider zu Hause auf dem Wohnzimmertisch, das werde ich bei einem der nächsten Konzerte wohl nachholen.

Wegen der Lesung ist der Konzertbeginn noch um eine halbe Stunde nach hinten geschoben worden, neben Gesprächen, einem Snack und einem Bier ist auch noch reichlich Zeit für den großen Merchandise-Stand. Die angebotenen CDs hat man als TD-Fan natürlich ohnehin fast alle schon, Thorsten Quaeschnings neue Solo-CD "Cargo" (ein Soundtrack zum gleichnamigen Film) hatte ich aber noch nicht in der Sammlung. Stilistisch weicht sie schon etwas vom "TD-Mainstream" ab, aber wer ein offenes Ohr für dunklere und ruppigere Sounds hat, sollte einmal in sie reinhören.

Das Foyer ist inzwischen richtig voll, und als der Einlass in den Saal beginnt, füllt sich dieser auch zügig. Wie in jedem größeren Konzertsaal gibt es mehr oder weniger teure Plätze, die Ticketpreise an diesem Abend reichen von knapp 40 bis über 80 Euro. Ganz voll wird der Saal an diesem Abend nicht: von den gut 1500 Sitzplätzen bleiben einige leer, insbesondere die teureren Plätze in den Logen und den ersten zwei Reihen. Zu Beginn kommt Bianca auf die Bühne und hält eine kleine Einführung. Duisburg ist für Tangerine Dream ein besonderer Ort, spielten hier doch die Schimanski-Tatorte und die Titelmelodie von einem dieser Krimis ("White Eagle" bzw. "Das Mädchen auf der Treppe") gilt allgemein als der größte kommerzielle Erfolg von Tangerine Dream. Hoshiko Yamane, Ulrich Schnauss und Thorsten Quaeschning werden einzeln auf die Bühne geholt und nehmen ihre Plätze ein. Los geht's.

Gleich zu Anfang wird klar, dass die Zuschauer auf den Plätzen in der ersten Reihe an diesem Abend einen Extra-Service bekommen: die vier großen Kästen mit einem Volumen von jeweils knapp zwei Kubikmetern erweisen sich als das, was man vermutet hat: Basslautsprecher. Zusammen mit der wie üblich komfortablen Lautstärke von TD-Konzerten verwandeln sie die Sitze in der ersten Reihe in echte Massagesessel. Falls ich von der Hinfahrt mit dem Auto irgendwelche Verspannungen im Rücken hatte - nach dem Konzert werden sie wortwörtlich wie weggeblasen sein.

Die Lautstärke auf TD-Konzerten sorgt unter den Fans ja immer wieder für Diskussionen, und auch heute Abend sehe ich den einen oder anderen, der sich während der ersten Hälfte auf einen Platz in einer der der hinteren Reihen umsetzt. Persönlich kann ich den Pegel gut aushalten - ähnlich wie neulich in der Elbphilharmonie ist die Sound-Anlage potent genug, um diese Lautstärke ohne Verzerrungen herüber zubringen.

Wie üblich geht es in den knapp anderthalb Stunden der ersten Hälfte quer durch die Jahrzehnte, und auch das angesprochene "White Eagle" ist dabei. Gefühlt würde ich sagen, das in der ersten Hälfte die rhythmischeren Titel den kleineren Anteil hatten, und auch vom neuen Album "Quantum Gate" kommt nur ein Track zu Gehör. Es ist auf jeden Fall schön zu sehen, dass das vorbereitete "Repertoire" groß genug ist, dass man die Playlist von Konzert zu Konzert variieren kann. Nicht wenige im Saal waren ja nicht nur in Hamburg, sondern vor einigen Wochen auch schon in Dresden, Halle und London dabei.

Bilder von der ersten (und auch der zweiten) Hälfte kann ich dieses Mal leider nur in Grenzen mitbringen, denn kurz nach Beginn wird uns vom Personal mitgeteilt, dass Fotografieren wohl doch nicht erlaubt ist. So bleibt es bei einigen wenigen, mehr oder weniger diskret durch dem Sucher gemachten Schnappschüssen. Akkrededierte Fotografen sind aber auch unterwegs, dieses Konzert wird fototechnisch also nicht undokumentiert bleiben. Das wäre auch jammerschade, denn an diesem Abend gibt sich auch der Lichttechniker des Theaters alle Mühe, mit seiner Show der Musik noch eins draufzusetzen.

Der erste Track nach der Pause ist "Cloudburst Flight", und dazu passend laufen Impressionen eines Fluges durch die Wolken, die sich mit Bildern von Edgar Froese aus verschiedenen Jahren abwechseln. Das ist der "Edgar Froese-Gedenkmoment" und auch inzwischen fester Bestandteil eines TD-Konzerts. Danach geht es mit der Reise durch die Jahrzehnte weiter, dieses Mal mit einem größeren Gewicht auf rhythmischeren Titeln. Und ohne weitere Pause beginnt die Improvisation, in der das Trio seiner Inspiration freien Lauf lässt. Auch wenn man einzelne Soundelemente wiedererkennt, so kommt doch jedes Mal etwas anderes dabei heraus - viele Fans betrachten diese halbe Stunde am Ende inzwischen als den eigentlichen Höhepunkt jedes Konzerts, führt sie doch stilistisch in die Phaedra-Ära zurück, in der viele Fans Tangerine Dream kennen und lieben gelernt haben. Ob es auch diese Impro einmal auf CD geben wird? Wer weiß, der Recorder wird jedenfalls die ganze Zeit mitgelaufen sein.

Und das war es auch schon, denn diese Impro ist gleichzeitig die Zugabe - Applaus auf der einen, Verbeugung und gelöste Gesichter auf der anderen Seite. Als reiner "Konsument" kann ich natürlich nicht ganz nachvollziehen, was für eine Vorbereitung hinter so einem Konzert steht - aus der Sicht des Publikums hat an diesem Abend alles geklappt. Thorsten entschuldigt sich zur allgemeinen Erheiterung noch dafür, dass das Konzert so lang war - der Eurovision Song Contest, der an diesem Abend lief, wäre leider inzwischen vorbei.

Die Bar im Foyer hat bereits geschlossen, als wir den Saal verlassen. Wer seine trockene Kehle wieder anfeuchten will, muss es außerhalb des Theaters tun. Für den Rest ist beim Meet & Greet jetzt noch Zeit, sich eine CD oder die Eintrittskarte signieren zu lassen. Signiert wird aber alles, auf dem sich schreiben lässt. Einige längliche, weiße Gegenstände offenbaren sich bei näherem Hinsehen als Tasten aus einem Keyboard, auch die werden mit einem Autogramm versehen. Mein Blick trifft am Merchandise-Stand die letzte Umhängetasche, und mir fällt dabei ein, dass ich bei einer Dame noch eine Schuld einzulösen habe. Als ich neulich in Holland wieder einmal ein paar CDs zu viel gekauft hatte, hatte sich Fiona darüber mokiert und als Ausgleich eine neue Handtasche gefordert. Kurzentschlossen greife ich zu und lasse mir die Tasche von Bianca, Hoshiko, Thorsten und Ulrich signieren. So, liebe Fiona, das ist nicht direkt eine Handtasche, aber doch ein absolutes Unikat. Bianca verrät nämlich, dass dies wirklich die allerletzte Tasche war, der Stapel von anfänglich einem halben Dutzend war schon ein Rest, der sich noch zufällig im Keller gefunden hatte. So fahre ich kurz vor ein Uhr mit dem guten Gefühl zurück, wieder einen Punkt auf der ewig vollen ToDo-Liste abgehakt zu haben. Wann ich das nächste Mal Tangerine Dream live sehen werde? Einige Gelegenheiten gibt es in diesem Jahr ja noch. Wir werden sehen.

Alfred Arnold

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