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Jubiläumskonzert in der elektrischen Höhle

Es ist unverkennbar der Beginn der nächsten Jahreszeit. Der Jahrhundertsommer 2018 ist vorüber, die Temperaturen haben das für diesen Monat zu erwartende Niveau erreicht und das Wetter ist herbstlich wechselhaft. Am heutigen Samstag geht es aber an einen Ort, wo die Temperatur über das ganze Jahr gleich ist, und das ganz ohne Klima-Anlagen: die Dechenhöhle, eine Tropfsteinhöhle bei Iserlohn.

electric cave 2018 banner

Vor einhundertfünfzig Jahren hatte sich an diesem Ort ein Bahnarbeiter über seinen plötzlich verschwundenen Hammer gewundert, und bei der Suche danach stieß man auf eine unterirdische Zauberwelt aus bizarr bis wunderschön geformten Tropfsteinen, die seitdem Touristen anlockt. Schon seit vielen Jahren werden nicht nur Führungen durch die Grotten und Gänge dieser Höhle angeboten, sie werden auch als exklusive Veranstaltungsorte genutzt. Musikkonzerte von und mit Pyramid Peak haben haben eine lange Tradition, und seit einigen Jahren hat sich daraus ein Doppelkonzert mit dem bekannten Trio Broekhuis, Keller und Schönwälder entwickelt.

Dieses Konzert findet üblicherweise alle zwei Jahre statt, und wie es der Zufall so will, ist auch das Jubiläumsjahr der Dechenhöhle ein Jahr, in dem sich Freunde klassischer und melodischer elektronischer Musik wieder auf den Weg nach Iserlohn machen können. Das 2018er-Konzert fällt anlässlich des Jubiläums noch etwas üppiger aus, und vor ein paar Monaten hatten Axel Stupplich und Andreas Morsch bei den "offiziellen" Feierlichkeiten mit einem 45-minütigen, kostenlosen Mini-Auftritt dafür geworben. Nicht weniger als fünf Konzerte an zwei verschiedenen Orten sind in der Zeit vom Nachmittag bis zum späten Abend geplant. Wer nicht ganz diese Ausdauer mitbringt, konnte aber ein separates (und günstigeres) Ticket für die beiden "klassischen" Abendkonzerte von BK&S und Pyramid Peak buchen.

Wer das Sitzfleisch (und Ausdauer beim Stehen, dazu gleich mehr) mitgebracht hat, der kann einige der Musiker vorher mit ihren Solo- und anderen Projekten in der Wolfsschlucht erleben. Das ist keine Schlucht im Freien, sondern eine der diversen Grotten in der Höhle, für die frühere Generation von Höhlenforschern kreative Namen gefunden haben. Sie liegt mitten in der Dechenhöhle, wir erreichen sie durch einen künstlich angelegten Tunnel. Stefan Niggemann, Leiter der Dechenhöhle und des angeschlossenen Museums, weist vorher noch auf die niedrige Decke hin, und dass man doch darauf achten sollte, keine Formationen versehentlich mit seinem Kopf zu beschädigen (man beachte die Prioritäten!).

Als der ausgemauerte Teil des Ganges endet, muss man sich tatsächlich ein wenig ducken, um in die Wolfsschlucht einzutreten. Der Boden ist leicht ansteigend, man könnte also fast sagen, er bildet eine natürliche Tribüne ... auf der es aber nur Stehplätze gibt. Eine handvoll Stühle sind für diejenigen vorgesehen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht länger stehen können, aber der Rest des Publikums kann sich bestenfalls für einen Moment irgendwo anlehnen. Die Konzerte sind mit einer Dauer von maximal einer Stunde aber so kurz, und die Pausen lang genug, dass sich das gut aushalten lässt. Und wir von der "berichtenden" Zunft sind ja ohnehin die meiste Zeit unterwegs, um die Musiker aus der einen oder anderen Perspektive bildlich einzufangen.

Mitten in der Grotte liegt ein flacher Stein, der wohl irgendwann einmal von der Decke gestürzt sein muss und den Stefan Niggemann als Podest für seine Einführung nutzt. Stahlarmierungen in den Wänden stellen sicher, dass so etwas in einer öffentlich zugänglichen Höhle nicht wieder passiert. Allzu oft passieren solche Dinge wohl ohnehin nicht, auch auf dieser Felsplatte wachsen bereits Stalagmiten, aus deren Höhe man zurückrechnen kann, wie lange sie bereits an diesem Ort liegt.

Nur aber zur Musik! Wer mit dem Namen "Andrew Rotten Project" noch nichts anfangen kann, übersetze das einfach einmal wörtlich ins Deutsche - es ist der Name, unter dem Andreas Morsch, die eine Hälfte von Pyramid Peak, bereits 2005 ein Album veröffentlicht hat. An diesem Nachmittag ist die Live-Premiere seines Solo-Projekts. Sequenzen beginnen den ganzen Raum zu füllen, aus Lautsprechern, die geschickt in diesem doch recht unregelmäßig geformten Konzertsaal verteilt wurden. Auf diesem Fundament breitet Andreas Morsch melodisch-rhythmische Klänge aus, mal flotter, mal etwas chilliger. Es wird eine kurzweilige und abwechslungsreiche Dreiviertel Stunde, und Fans von Pyramid Peak, die den einen oder anderen Sound wiedererkannt haben, werden ohne Frage auch an Andreas Morschs Solomusik ihre Freude haben. Als er nach Ende des "regulären" Teils aufstehen will, stößt er sich prompt den Kopf an der Höhlendecke, die in seiner Ecke aber auch besonders niedrig ist. Weder Höhle noch Musiker gehen aber beschädigt daraus hervor, und so ist auch noch eine Zugabe drin.

Für die folgende Umbaupause dürfen oder - besser - müssen wir die Wolfsschlucht auf dem Weg verlassen, auf dem wir sie betreten haben. Zwar sind die Instrumente für die nächsten beiden Konzerte bereits aufgebaut, sie sind aber noch abgedeckt. Wir sind eben in einer Tropfsteinhöhle, da muss man mit "Wasser von oben" rechnen. Die Besucher können sich in der Zwischenzeit mit einem Kaffee wieder aufwärmen, oder die CD-Stände in Augenschein nehmen. Bei Lamberts Spheric-Label liegt exklusiv die neue Solo-CD von Axel "Axess" Stupplich, daneben finden man den auch schon fast "klassischen" Doppelstand von Syngate und Manikin Records.

Manikin Records ist das von Mario Schönwälder betriebene Label, und eines seiner Projekte füllt heute das zweite Konzert aus. Irgendwann ist ihm und Frank Rothe wohl aufgefallen, das klassischer Filterkaffee neben elektrischem Strom der wichtigste "Treibstoff" bei ihrer Arbeit ist, und so hat sich der Name ihres Projekts ergeben. Auf mittlerweile vier Alben haben sie es gebracht, und die sind schlicht nach den Nummern von Filtertüten benannt. Den klassischen Melitta-Porzellanfilter haben sie heute auch mitgebracht, und er hat einen Ehrenplatz mitten auf der Steinplatte in der Wolfsschlucht.

Nun spielen Filter aber nicht nur bei der Kaffee-Zubereitung eine wichtige Rolle, auch bei einem klassischen Synthesizer sind Filter eine elementare Baugruppe. Filter-Kaffees Musik trägt uns in die 70er-Jahre zurück, als Synthesizer noch schrankgroße Installationen waren, gespickt mit Knöpfen und Schaltern, und deren "Variabilität" dafür sorgte, dass jedes Konzert ein Unikat war. Auch heute wird kein fertiges Material gespielt. Mario erzählt, die drei Titel wären für ein kommendes neues Album geplant, aber noch mitten in der Entstehung. Nun, dann schauen und hören wir einmal, was sich in der folgenden Stunde so entwickeln wird!

Was ich jetzt erst beim zweiten Konzert so richtig bewusst erlebe, ist wie sehr man in so einer Höhle von der Umwelt und ihrem Geräuschteppich abgeschottet ist. Auch der Rest des Publikums scheint sich dessen bewusst zu sein, es ist richtig still und fast andächtig, während Frank und Mario ihren Ideen freien Lauf lassen. Die sind zum Teil für die beiden selbst überraschend, und bedürfen an der einen oder anderen Stelle noch eines Feintunings, aber das liegt eben in der Natur der Sache. Vor dem dritten Track erzählt Mario noch kurz etwas zu seiner Entstehung: es ist der letzte, der in seiner "Behelfswohnung" entstanden war, er musste wegen Renovierung seine gewohnten vier Wände für eine Weile verlassen. Ob ihn das irgendwie aus der Ruhe gebracht hat? Es wird jedenfalls der dynamischste Track dieses Konzerts, und war auch gleich die Zugabe.

... und da war doch noch der Kaffeefilter. Was wohl passiert, wenn wir ihn ein wenig zweckentfremden und ein paar Münzen als Trinkgeld hineinwerfen? Damit haben Frank und Mario wohl nicht gerechnet. Detlef will sich den Filter jedenfalls gleich fürs Abendkonzert ausleihen.

Vor dem dritten Konzert müssen wir die Wolfsschlucht wieder verlassen. Die Pause bis zum Axess-Konzert ist eine volle Stunde und würde auch für ein Abendessen reichen, dafür ist es aber noch ein wenig früh. Ein Restaurant gibt es im Höhlenmuseum selber ja schon seit einigen Jahren nicht mehr, an den noch vorhandenen Tischen und Stühlen kann man aber ein Eis aus dem Museumsshop, eine Knabberei aus dem Automaten oder einfach das verzehren, was man sich mitgebracht hat. Den Rest der Zeit füllen Gespräche über die kommenden Konzerttermine, von denen es im Herbst ja immer reichlich gibt. Draußen hat es angefangen zu nieseln, Spaziergänge in der Umgebung sind nur etwas für hartgesottene.

Das dritte Konzert in der Wolfsschlucht bestreitet die andere Hälfte von Pyramid Peak. Axel Stupplich hat unter dem Namen "Axess" bereits einige Soloalben gemacht, und heute ist mit "Seashore" das neueste herausgekommen. "Seashore" ist eher ein stilles, chilliges Werk, ohne Rhythmen und mehr mit Flächen - eben so wie man sich einen Nachmittag am Strand vorstellt. Den ersten Titel spielt Axel direkt, erst danach erzählt er etwas von dem neuen Album. Auch die folgenden drei Tracks spielt er ohne Pause und lässt sie ineinander übergehen, um die von diesem Album ausgehende Stimmung nicht zu stören. Sie passt auch ganz wundervoll in diesen Raum, der auf seine Weise Ruhe und Gelassenheit ausstrahlt. Einziger Kritikpunkt: die Stunde geht wieder viel zu schnell vorbei. Nur eine kleine Zugabe ist noch drin, "Into Orbit" führt uns wieder aus den Tiefen der Höhle heraus. Axel bittet dafür um Verständnis, diverse Instrumente müssen für den Abendteil noch in die Kaisergrotte gebracht und wieder verkabelt werden.

Der nur wenig überzogene Zeitplan hat aber auch den Vorteil, dass ich und andere jetzt kurz fürs Abendessen den Weg herunter zur Hauptstrasse gehen können. Griechisch oder Pizza? Ich entscheide mich für Gyros, das geht erfahrungsgemäß schnell, wenn der Spieß sich schon dreht. Die Portion ist mehr als reichlich, wem sie zu mächtig ist, der kann aber auch einen kleinen Gyros-Teller haben. Mehr als satt geht es wieder den Fußweg zu Höhlenmuseum und Bahnstation hinauf. Der ist im Dunkeln und ohne Beleuchtung nicht ganz ungefährlich, hier sollten die Betreiber des Museums noch für etwas Licht sorgen. Es ist an so einem Ort eben immer etwas zu tun, und in den letzten Jahren wurde bereits einiges getan, die Attraktivität zu steigern. Die neue LED-Beleuchtung zum Beispiel mit ihrem reinen, weißen Licht lässt die Formationen noch brillianter erscheinen. Man wagt gar nicht daran zu denken, wie matt sie im Vergleich früher unter Fackel- und Gaslicht ausgesehen haben und dabei auch noch verrußten.

Die Abendkonzerte finden statt in der Wolfsschlucht in der Grotte statt, die auch schon in früheren Jahren als Konzertsaal diente und in der eine kleine Bühne gemauert wurde. Es sind jetzt auch Stühle für alle Besucher vorhanden, die noch deutlich zahlreicher sind als am Nachmittag. Es wurden also eine ganze Reihe von Tickets nur für die Abendkonzerte verkauft und die Kanzelgrotte ist randvoll. Den Anfang machen Broekhuis, Keller und Schönwälder: Von den Dreien ist Detlef ja quasi der "Sprecher" und da Stefan Niggemann gerade anderswo unterwegs ist, bleibt die Einführung an ihm hängen. Es macht es kurz: "Tut das, was wir machen - genießt!"

Und ein Genuss ist das, was BK&S in der folgenden Stunde bieten, ohne Frage. Begleitet von Lichteffekten, die die Tropfsteine der Kanzelgrotte in immer neue Farben tauchen, steigert sich das Trio aus Duisburg, Holland und Berlin in ihren gewohnten Mix aus Berliner Schule, Rhythmen und sparsamen Melodielinien hinein. Wir folgen ihnen, und die Musik zieht alle so in ihren Bann, dass auch die besonders eifrigen Fotografen das Fotografieren auf das Nötigste beschränken - der eine oder andere kurze Ausflug an die Bühne, dann geht es wieder auf den Platz zurück und wieder in den "Tunnel".

Aber auch dieser Tunnel hat ein Ende, an dessen Ende reichlich Applaus auf BK&S wartet - es war ein Genuss! Und bis zum nächsten Genuss ist es auch nicht mehr lange hin, zwischen den beiden Abendkonzerten ist nur eine Viertelstunde Pause, gerade genug um sich ein bisschen die Bein zu vertreten. Neben warmer Kleidung haben sich viele Besucher auch noch Decken und Kissen mitgebracht, und etwas Bewegung tut gut nach der Unbeweglichkeit bei 10 Grad Kälte und 100 Prozent Luftfeuchte. Glühwein oder Punsch wie in früheren Jahren gibt es heute leider nicht, es ist an Axel Stupplich und Andreas Morsch, jetzt wieder etwas einzuheizen. Im finalen Konzert dieses Tages treten sie zusammen als Pyramid Peak auf. In ihren Einzelkonzerten hatten sie ja durchaus unterschiedliche Stilrichtungen präsentiert - der eine eher ambient, der andere eher rhythmisch. Sie entschließen sich dazu, die beiden Stile nicht zu einem zusammenfließen zu lassen, stattdessen wechseln sie sich etwas ab: der erste Titel flott, dann Track Nummer zwei wieder zum chillen und so fort. Das ist quasi ein Kontrast zu der einen Linie, die BK&S vorher durchgespielt haben und bei der der auf kontinuierliche Entwicklung gesetzt wurde. Die Qualität des gebotenen ist jedenfalls genauso hoch und fordert rauschenden Abschluss-Applaus heraus.

Abschluss? Ja, eigentlich schon, aber da ist doch wohl noch eine letzte Zugabe fällig. Für die bittet Axel noch einmal alle Akteure des Tages auf die Bühne, also BK&S plus Frank Rothe. Damit wird es auf der kleinen Bühne richtig voll, Frank muss sich mit Mario ans gleiche Keyboard quetschen, aber für die fünf Minuten der Zugabe passt das schon. In der zeigen dann sechs Musiker, dass Ambient, Sequenzen, Melodien und Rhythmen auch in einem Track eine gelungene Melange eingehen können - vielleicht gibt's davon auch mal einen Mitschnitt auf CD, ich würde sofort zugreifen.

Dass das geplante Ende von 22:45 Uhr dabei ein bisschen auf der Strecke geblieben ist - was soll's. Alle sind zufrieden, wohl auch der Höhlengeist, denn heute hat es keine ungeplanten Töne, Kurzschlüsse oder sonstigen Ausfälle gegeben. Das Team um Stefan Niggemann und die Musiker werden wohl noch die eine oder andere Stunde beschäftigt gewesen sein, abzubauen und zusammenzuräumen - ihnen gilt der Dank für diese gelungene Veranstaltung. Vielleicht bleibt es ja in den kommenden Jahren bei dieser "Langform", und was vor vielen Jahren mit einem einfachen Konzert (und noch davor mit einem verlorenen Hammer) begann, entwickelt sich als "Electric Cave" zu einem richtigen Festival.

Alfred Arnold

Über Empulsiv

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