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Stimmen in der Luft - Premiere in Moers

Es ist an der Zeit, etwas nachzuholen, was ich schon einige Zeit vor mir herschiebe. Zwar habe ich schon einige Male auf Facebook kurz von Rike Casper und ihren Auftritten mit 'ZeitZuZeit' berichtet. Aber Postings in sozialen(?) Medien sind doch eher etwas Vergängliches, das irgendwann in den Tiefen einer Timeline verschwindet.  Aber gerade die Kunst-Form, die Rike zusammen mit Bärbel Schulz entwickelt hat, verdient einen Bericht hier an dieser Stelle, wo sich dauerhaft finden und nachlesen lässt: Die Verbindung von Musik und Lyrik. Poetische Texte aus den verschiedensten Jahrhunderten werden mit eigens dazu komponierter Musik verschmolzen. Komplettiert wird das Musik-poetische Projekt aktuell von Birte Schuler, die Rikes elektronische Klänge akustisch auf dem Cello begleitet.

Stimmen in der Luft Moers 2023

In diesem Jahr hat es schon die eine oder andere Aufführung dieser Kunst-Form gegeben, für die man sich die Wortschöpfung 'Müesie' - Musik und Poesie - ausgedacht hat. Rikes Album 'Stimmen in der Luft' trägt als erstes diesen Untertitel, und heute in Moers ist die offizielle Premieren-Präsentation dieses Albums.

Was ich an den Auftritten von 'ZeitzuZeit' oder 'Rike Casper und Friends' so schätze: Sie führen mich meist an Orte, die ich vorher noch  nicht besucht habe. Heute ist es das Schlosstheater Moers, genauer gesagt dessen kleines Studio, das einige Schritte entfernt vom großen Theatersaal liegt. Beide sind Teil der Gebäude rund um das 'Kastell' und den Schlosspark in Moers, der auch noch ein Stadtmuseum und beinhaltet. Im Park wird zum Beispiel - auf kindgerechte Weise aufbereitet - die wechselvolle Geschickte der Stadt Moers und ihrer Befestigungsanlagen erzählt. Die Mauerreste hier am Kastell sind ja letzten Endes ein Überbleibsel dieser Anlagen, die durch modernere und stärkere Waffen irgendwann ihre Funktion verloren. Am anderen Ende schließt sich ein Platz, mit diversen Restaurants an, die zum Verweilen einladen. Es ist Anfang Oktober und Spätsommer, und man kann noch einige Zeit am Abend draußen sitzen, ohne dabei zu frieren.

Über dem Eingang zum Studio ist das heutige Programm ausgehängt, mit großen, handgesetzten Buchstaben wie früher im Kino. Das Theater nebenan hat übrigens gerade 'Der gute Mensch von Sezuan' auf dem Spielplan stehen. Das finde ich einen spannenden Zufall, denn eben über jenes Stück von Berthold Brecht habe ich damals in der Schule meine letzte Deutsch-Klausur geschrieben (und dafür ausnahmsweise noch einmal eine akzeptable Note eingeheimst...). Das Theater ist aber (wie meistens) ausgebucht, und heute habe ich ja schon etwas anderes vor. Die Karte war vorbestellt und kann an der Kasse abgeholt werden. Die Jacke landet am Garderobenständer und wir dürfen noch einen Moment warten, bis das Studio geöffnet wird. Der übliche Hinweis: Telefone bitte aus oder auf stumm schalten!

Zu dieser Vorstellung werden knapp 30 Besucher ihren Weg finden.  Bisher sind die Auftritte von Rike Casper and Friends noch eher ein Geheimtipp, und es ist in der aktuellen Zeit, die nach dem Ende von Pandemie und Lockdown wieder mit einem Überangebot von Veranstaltungen lockt, auch nicht ganz einfach, mit einem neuen Format wahr genommen zu werden. Falls ich mit diesem Bericht ein klein wenig dazu beitragen kann, würde mich das sehr freuen, und genieße ich zum wiederholten Male die intime Atmosphäre und die Nähe zu den Künstlern. Zu dem 'üblichen' Trio ist sich heute noch Matthias Heße gestoßen. Normalerweise steht er gegenüber beim Theater auf der Bühne, heute wird er jedoch mit seiner im Vortrag geschulten Stimme das Programm bereichern.

Ach ja, wo wir vom Programm sprechen, das liegt in ausgedruckter Form auf jedem Platz aus, zusammen mit einer Kurz-Vita sowohl der Künstler als auch der Lyriker(innen), deren Werke heute zum Vortrag kommen. 'Es wird als gegeben angesehen' von Linda Vilhjálmsdóttir eröffnet den Abend: Rhythmische Klänge vereinen sich mit Bärbels Vortrag. Das Gedicht hat unser ewiges Streben zum Thema: Es muss immer weiter auf- und vorwärts gehen. Und wohin? Und was ist der Sinn davon? Sind wir nicht eher Getriebene als selber Treibende?

Erst nach diesem Einsteiger-Titel nimmt Bärbel sich die Zeit, die Künstler, das Projekt und das heutige Programm vorzustellen. Der Einsteiger gibt die vor: Heute wird es durchweg zeitgenössische Lyrik sein, und dabei wiederum größtenteils von isländischen Poet(inn)en. Die Isländer haben wohl eine besondere Liebe zur Poesie und zur Literatur im allgemeinen. Woher das kommt? Vielleicht ist es die rauhe Landschaft, vielleicht auch die langen und dunklen Winter, die dazu einladen, sich mit einem Buch an den Kamin zu setzen, und irgendwann die eigenen Gedanken auch einmal in Worte zu fassen.

Es geht also weiter mit der Gedankenwelt von dieser fernen Insel: Nach dem eher rhythmischen Einstieg wird es still und besinnlich, wenn Sigurður Pálsson Gedanken über Dunkelheit und das nahende eigene Ende an unsere Ohren dringen. Sigurður selber ist 2017 verstorben, und er wusste bereits einige Zeit davor, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben würde. Manche Menschen lähmt so eine Aussicht, ihn scheint sie aber motiviert zu haben, in der noch bleibenden Zeit so viel wie möglich hinterlassen - ein starkes Zeichen, trotz der eher melancholischen Inhalte.

Was isländische Poeten ebenfalls vereint, ist ihre Beziehung zur Natur. Wie bereits erwähnt, auf Island ist sie besonders und auf ihre Weise schön. So beschreibt Dagur Hjartarson seine poetisch-schwärmerische Beziehung zu Bäumen - das Gedicht ist ein Aufruf, die Natur zu schützen und zu erhalten.

Nach und nach kommen jetzt auch die anderen Stimmen auf der Bühne zum Einsatz. Erinnere ich mich an den allerersten Auftritt von 'ZeitzuZeit', so war es alleine Bärbel, die vorgetragen hat. Inzwischen tun dies fallweise aber auch Birte und Rike, und der 'Gast' des heutigen Abends bietet die Gelegenheit, kleine Dialoge auf der Bühne zu führen.

Die erste Hälfte des Abends endet mit Wolfgang Schiffers 'Schwierigkeiten beim Schreiben von Gedichten' - es wird also heute kein reiner "Isländischer Abend". Schwierigkeiten beim Schreiben - welcher Autor hat nicht schon einmal die Schreibhemmung verspürt, wenn die die Gedanken sich einfach nicht in Worte formen wollen oder man in seinem Roman an einer Stelle angekommen ist, wo man nicht weiß, wie die Handlung weiter gehen soll. Was mir in so einer Situation oft hilft: Einfach mal Pause machen, und sich davon mit anderen Dinge ablenken. Irgendwann macht es im Kopf dann 'klick' und der Fluss der Sätze ist auf einmal wieder da. Mit dieser Parallele gehen wir in die Pause, wie immer großzügig genug bemessen, um sich ein Getränk an der Bar zu holen oder für einen Moment vor die Tür zu gehen. Wie im Spätsommer üblich, ist es um diese Uhrzeit frisch geworden, und das ist ein willkommener Wechsel zur Wärme drinnen - Lüften ist angesagt!

Wieder zurück im Studio, macht Bärbel dieses Mal nur eine einzige Einführung zu Anfang: Den Rest des zweiten Teils sollen Musik und Poesie nicht unterbrochen werden. 'Stimmen in der Luft' ist als Download bereits seit ein paar Monaten erhältlich, und so sind die meisten Gedichte mir keine Unbekannten: Zum Beispiel 'Manchmal fühle ich mich' von der bereits erwähnten Linda Vilhjálmsdóttir, das von Rike vorgetragen wird und von den Zumutungen handelt, die wir uns selber und und anderen Dingen in der heutigen Welt aufbürden. Müsste das eigentlich alles sein? An vielem kann man selber nichts ändern, an einigem schon. Und Veränderungen fangen meistens im Kleinen an.

Wo heute mit Matthias ein männlicher Gegenpart auf der Bühne vorhanden ist, darf Hung-Min Krämers 'Männer sind wie Blumen' natürlich nicht fehlen - und Matthias nimmt es mit Humor. Ein weiteres Gedicht, auf das ich mich immer freue, ist das ebenfalls von Hung-Min stammende 'In the blink of an eye'. Dabei geht es um die Leere im eigenen Haus, wenn die Kinder 'flügge' geworden sind. Hat man das einmal begriffen, dann versteht man auch die vielen Anspielungen, und es wird mit der Musik von Rike und Birte ein Genuss.

Sigurður Pálsson Gedicht, von dem 'Stimmen in der Luft' seinen Titel erhalten hat, beschließt den zweiten Teil - danach in die Dunkelheit hinein ein schlichtes 'Das wars' von Bärbel. Für Verbeugung und Applaus wird es natürlich wieder hell. Hier im Studio gibt es eine Reihe fest installierter Scheinwerfer, und die sind über den ganzen Auftritt genutzt worden, um die Texte und Klänge mit mehr oder weniger Licht, kälteren oder wärmeren Farben noch zu akzentuieren.

Wird da der Wunsch nach einer Zugabe laut? Und überhaupt, da steht ja noch ein weiterer Titel auf der Liste. Bei 'Baltes und Erbe' war in der Vergangenheit 's-thetic' eine gern gespielte Zugabe, um auf einen Auftritt das letzte Highlight zu setzen. Bei 'ZeitzuZeit' und Rike Casper scheint sich 'Liebe Angelica' von Angélica Freitas sich zu so einem 'Rausschmeisser' zu entwickeln, denn die dazu von Rike komponierte Melodie hat Ohrwurm-Qualitäten. Und das Gedicht? Das handelt von Ausreden, wieso man nicht zum vereinbarten Treffen kommen konnte, eine skurriler und unglaubwürdiger als die andere. In echten Leben anwendbar sind die wohl doch eher nicht, will man eine Freundschaft keiner ernsten Belastungsprobe aussetzen...

Aber die fiktiven Anekdoten zum Schluss schließen dem Kreis zum Anfang, zum rastlosen Leben in unserer Zeit und dem ewigen Getrieben-sein. Ab und zu sollte man sich davon eine Auszeit nehmen, und diese Auftritte gehören dazu. Das Projekt um Rike und Bärbel hat in den letzte Jahren einen langen Weg zurück gelegt, was das Ausarbeiten dieser neuen Kunstform angeht, und der heutige Abend war zweifelsohne der bisherige Höhepunkt davon. Selbstverständlich geht es auf diesem Weg weiter, und wer über die nächsten Termine informiert sein will - es liegt eine Liste aus, auf der man eine E-Mail-Adresse eintragen kann. Bitte leserlich schreiben...dann kommen die Mails auch an. Und das Album 'Stimmen in der Luft' kann man heute auch als CD erwerben. Genauso wie in der klassischen elektronischen Musik hat das physische Medium auch hier noch eine Bedeutung, die es anderenorts mittlerweile eingebüßt hat.

Wo ich jetzt die elektronische Musik erwähne - ob dieser Bericht über einen Musik- und Poesieabend in einem Magazin für EM nicht etwas deplatziert ist? Mich meine nein. Rike Casper hat in der Vergangenheit auch EM-Alben veröffentlicht, zum Beispiel zusammen mit Erik Matheisen.  Hier wird die Brücke zu anderen Kunstformen - und damit auch zu einem anderen Publikum - geschlagen. Wer bei EM mit Vocals nicht sofort nach der Stopptaste greift, der kann und sollte hier auch einmal noch etwas weiter über den sprichwörtlichen eigenen Tellerrand hinaus schauen.  Ich finde jedenfalls, es lohnt sich, und so wünsche ich mir noch viele Auftritte an vielen verschiedenen Orten - ganz egal, ob als 'ZeitzuZeit' oder als 'Rike Casper und Friends'!

Alfred Arnold

Über Empulsiv

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