em:Blog

Featured

Weihnachtsbescherung in Oirschot

Wie die Zeit vergeht! Ein Jahrzehnt ist es her, dass ich Tangerine Dream ein letztes Mal mit Edgar Froese live gesehen und gehört habe. Das war in Köln, und auf der damaligen
Tour wurde das vierzig-jährige Jubiläum von 'Phaedra' gefeiert.  Mit diesem Album war Tangerine Dream 1974 der Durchbruch in England gelungen.

Tangerine Dream Oirschot 2024-12-21

Nun schreiben wir das Jahr 2024, und 'Phaedras' Veröffentlichung feitert ein rundes Jubiläum. Das leider nicht mehr mit Edgar, der 2015 seine kosmische Adresse verändert hat, aber mit denen, die das Projekt in seinem Sinne weiter führen. Und Ron Boots war der Coup gelungen, Tangerine Dream kurz vor Weihnachten noch einmal nach Oirschot zu holen, ins 'De Stoelendans', das vielen immer noch unter dem Namen 'De Enck' ein Begriff ist.

Nachdem Ron Verbindungen zu dem neuen Betreiber geknüpft hatte, ist er mit seinen Events von Eindhoven wieder nach Oirschot zurück gezogen.  Mit dem heutigen Tag - drei Tage vor Heiligabend! - waren das in diesem Herbst gleich derer drei. Angesichts so einer Häufung waren in der Vergangenheit bereits Bedenken geäußert worden, ob Ron sich damit nicht die eigenen Besucher streitig macht. Nicht für jede(n) ist Oirschot nur eine gute Stunde mit dem Auto entfernt, wie es bei mir der Fall ist.

Bisher waren diese Bedenken aber eher unbegründet. Sowohl das Schmoelling-Konzert als auch E-Live in diesem Herbst waren von der Besucherzahl deutlich im 'grünen Bereich', und eine Woche vor dem heutigen Tag war nur noch eine kleine zweistellige Zahl an Tickets verfügbar. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass das Foyer von 'De Stoelendans' dicht gefüllt ist, als wir eine gute halbe Stunde vor Einlass in Oirschot eintreffen. Die Halloween-Dekorationen, die bei E-Live überall aufgehängt waren, sind natürlich verschweiunden. Stattdessen strahlen uns von allen Seiten beleuchtete Weihnachtsbäume an. War der Höhepunkt des Festes hier in den Niederlanden nicht bereits am Nikolaus-Vorabend, wenn 'Sinterklaas' und seine Helfer die Geschenke verteilen? Für viele Besucher dürfte am heutigen Tag die große Bescherung sein. Und falls noch ein paar Geschenke fehlen: Sowohl Groove als auch Tangerine Dream haben ihre Stände aufgebaut, was das Foyer an die Grenzen seines Fassungsvermögens bringt.

Das Positive daran: Es gibt offensichtlich keine Besucher, die sich nur für den 'Haupt-Act' interessieren und erst entsprechend später anreisen. Wie schon im Herbst wird Ron Boots mit ein paar seiner guten musikalischen Freunde den Saal ein wenig für den Haupt-Act 'vorheizen'. Indes: Wer Rons Auftritte schon erlebt hat, der weiß, dass sich alleine dafür der Weg schon lohnen kann. 

Überlassen wir also die Frage nach dem eigentlichen Haupt-Act dem persönlichen Geschmack und beschauen das, was auf der Bühne aufgebaut wurde, während der Einlass fortschreitet. Ron kann derweil verkünden, dass der Saal bis auf zwei oder drei Plätze ausgebucht ist. Das Mitbringen von größeren Taschen und Jacken ist also eher ungern gesehen - falls der Saal im Notfall schnell geräumt werden muss, wären sie gefährliche Stolperfallen.

Und da wäre noch ein Grund, zwischen Einlass und Beginn eine halbe Stunde Zeit zu lassen: Erfahrene 'Oirschot-Besucher' wissen natürlich, dass die kostenlose Tiefgarage irgendwann schließt, und man sein Auto um diese Zeit schon heraus gefahren haben sollte. Anderenfalls kostet die Dienstleistung der Auslösung einen kleinen dreistelligen Betrag oder man hat eine Übernachtung in Oirschot gewonnen. Und das wäre im Gegensatz zu seiner Heimatstadt Best kein Vergnügen, wie Ron anmerkt. Wir wissen jetzt allerdings nicht, ob Ron die Qualität der Hotels oder die der Parkbänke verglichen hat. Aus dem Publikum kommt noch die Frage, ob man in so einem (Not)Fall denn bei ihm übernachten könnte? Na ja, da gäbe es ein paar Haustiere, auch nicht-vierbeinige, die unerwartete Gäste vielleicht nicht so goutieren würden...

Das Set von Ron Boots und seinen Freunden ist im vorderen Bereich der Bühne aufgebaut. Harolds Schlagzeug und Franks Gitarren sind direkt zu erkennen - die waren auch schon neulich in der Dechenhöhle mit von der Partie. Heute ist zusätzlich auch ein Gast von der Insel mit dabei, nämlich Stephan Whitlan. An seinem Setup fällt ein neues Maskottchen auf: Die dritte Hand muss sich den Platz mit einem kleinen Drachen teilen.

Sich selber groß anzukündigen, war noch nie Rons Sache, und so legt das Quartett direkt los. Backgrounds und Chöre erinnern an 'Moondawn', aber dabei bleibt es nicht lange: Eine flotte Sequenz 'a la Ron' zeigt den Weg für den ersten Track. Es dauert nicht lange, bis auch Harold und Frank einsteigen und mächtig Druck machen. Gleich der Einsteiger wird ein mitreißender Trip durch die 'Eindhovener Schule', wie Ron sie pflegt, angereichert mit elektronischem Rock.

Ron versteht es aber auch, in seinen Konzerten einen Spannungsbogen aufzubauen, und der erfordert es, dass dem Publikum auch regelmäßig eine Verschnaufpause gelassen wird. Die bekommen wir im zweiten Track: Ein gemäßigteres Tempo und leisere Töne gestatten es Ron, auch etwas komplexere Sounds unterzubringen, darunter auch ein Solo, das genaueres Hinhören verdient. Glocken läuten das Ende dieses Titels ein, und Frank wechselt von der Fender auf die Ibanez. Nach Ron hat Stephan jetzt Gelegenheit, einige seiner verspielten Soli unterzubringen, und es ist immer wieder faszinierend, wie dabei die Finger über das Keyboard fliegen - die dritte Hand wird dafür nicht gebraucht. Der Sound wird kühler und schärfer, beinahe ein wenig psychedelisch - das wäre in einem Film die Passage, wo man auf das Finale zusteuert.

Und das Finale kommt in der nicht völlig unerwarteten Form, dicke Bass-Läufe kündigen 'Acoustic Shadows' an, wie auch schon letzten Monat in der Höhle. Mit Franks Gitarre (jetzt wieder die Stratocaster) gewinnt dieser Klassiker noch einmal an Energie und wird zu dem Klang-Gewitter, in dem man versinken könnte - oder daran denkt, wie sich die Soldaten im gegnerischen Kanonen-Kugelhagel gefühlt haben müssen.

'Acoustic Shadows' könnte der Schlusspunkt eines Konzerts sein, jedoch nicht hier und heute: Dieses Mal ist es an Frank, dem viel zu schnell vorüber gegangenen Auftritt noch ein Highlight aufzusetzen. Dieses Mal ist es nicht Mike Oldfield, dessen Stil er so genial interpretieren kann, es sind seine 'Shine on...'-Variationen, die auch Stephan nicht mehr auf seinem Hocker halten: Flugs die Yamaha-Keytar umgeschnallt, und der Wettbewerb um die besten Posen darf beginnen! Fotos können nur einen unvollständigen Eindruck davon geben, was im Finale dieses ersten Konzerts auf der Bühne 'abgeht'. In die Verbeugung und den Applaus hinein wird natürlich die eine oder andere zaghafte Forderung nach einer Zugabe gestellt. Indes: Es ist noch einiges umzubauen, und der Zeitplan soll nicht ins Wanken kommen. Nichts wäre ärgerlicher, als das TD-Konzert nicht mehr komplett verfolgen zu können, weil es verspätet angefangen hat und man den letzten Bus sonst verpasst.

So bekommen wir jetzt statt einer Zugabe eine Dreiviertel Stunde Pause, in der genug Zeit ist, die Stände noch einmal zu begutachten. Es sind sicherlich noch diverse T-Shirts und Tonträger über die Theke gegangen, darunter auch Vinyl-Veröffentlichungen historischer TD-Konzerte aus den 70ern, eben aus der 'Phaedra-Ära'. Zeitiges Anstellen vor dem Eingang ist aber geboten, weil man einen Platz in den vorderen Reihen ergattern. Und das Bestehen auf den Zeitplan hat sich gelohnt: Pünktlich um 20:45 Uhr wird wieder Einlass gewährt.

Gefühlt ist das Gedränge jetzt doch noch etwas größer, aber es geht schneller, bis alle einen Platz gefunden haben, idealerweise den gleichen wie beim ersten Konzert. Der Vorhang ist geschlossen, und Ron passt als 'Supervisor' auf, dass alles reibungslos abläuft. Aus den Lautsprechern dringen bereits vertraute Klänge an unsere Ohren. Das könnte der Beginn einer jener Sessions sein, mit denen TD in den vergangenen Jahren immer ihre Konzerte beendet hat. Parallel dazu verrät ein heller Rand an der Unterkante der Vorhänge, dass die Bühne vorwiegend in weißes Licht getaucht sein wird, vermischt mit leichtem Nebel. In den frühen 70ern sollen die Säle ja auch öfters vernebelt gewesen sein, nur war es damals nicht immer künstlicher Bühnennebel...

Die Sounds der 'Intro-Session' werden bestimmter, das Licht wird gedimmt, die Gespräche im Saal verstummen, und die Spannung hat einen ersten Höhepunkt erreicht, als die Vorhänge zur Seite fahren. Wie wird das 'runde' Jubiläum von 'Phaedra' zelebriert? Um es voraus zu schicken: Nicht, indem das Originalwerk möglichst genau reproduziert wird. Stattdessen wird seine musikalische Botschaft ins Hier und Jetzt übersetzt. Wir sehen zum Einstieg nur Thorsten auf der Bühne, und er spielt - 'gänzlich unplugged' - Flöte. Ihr reiner und nicht künstlich 'aufgepumpter' Klang vermittelt das Gefühl von Besinnung auf sich selbst und Kontemplation. Passend dazu sehen wir auf der Leinwand das Bild einer einzelnen Person, die ein wenig verloren in den Wogen steht - aber ihren eigenen Weg geht. Und genau den ist Edgar mit TD seinerzeit ja auch gegangen.

Hoshiko und Paul kommen erst nach diesem Solo dazu. Die Stimmung bleibt in den folgenden beiden 'Kapiteln' der Geschichte weiter minimalistisch. Meeresrauschen und Flächen dominieren, und meine Assoziationen gehen fast noch mehr in Richtung der Vorgänger von 'Phaedra'. Erst im vierten Part setzen die Sequenzen ein, so wie es beim Vorbild auch der Fall ist. Wie auch neulich schon in Lemgo, klemmt Thorsten einige Tasten mittels Klebestreifen fest und beginnt, die Sounds Lage für Lage übereinander zu stapeln. Die Sache beginnt, Fahrt aufzunehmen, aber der 'Geist' von Phaedra bleibt immer klar erkennbar, wenn Paul am Keyboard oder Hoshiko mit der Geige ihre Soli dazu beitragen. Gelegentlich spricht Thorsten etwas ins Mikrofon, die Anweisungen sind aber wohl nicht an uns gerichtet, sondern an die, die das 'Drumherum' machen. Denn Licht und Visuals vollziehen den Wechsel zu einem neuen Kapitel mit, zum Beispiel ins Rote, als die Stimmung wechselt und die Sequenzen abreißen, so wie es beim Titel-Track von 'Phaedra' nach gut zehn Minuten geschieht.

Die 'Phaedra Session', wie Thorsten sie im Anschluss nennt, hat fast eine Stunde eingenommen. Sie hat zumindest mir so viele neue Eindrücke beschert, dass ich sie gerne noch einmal hören würde - hoffentlich wird ein Mitschnitt davon veröffentlicht! Dann hätte man auch die Gelegenheit, beide Werke direkt zu vergleichen.  Thorsten ist jedenfalls sichtlich zufrieden: Ein Lächeln auf dem Gesicht, stellt er erst Hoshiko und Paul vor und richtet danach seine Worte an den Saal. Auch wenn die 'Phaedra Session' der zentrale Teil dieses Konzerts war und ist, es ist noch lange nicht vorüber. Zum 'Meet and Greet' am Merch-Stand wird man sich erst in knapp anderthalb Stunden sehen...

...denn nun folgt der Teil, der in den vergangenen Jahren immer der erste Block eines TD-Konzerts war: Der bunte Streifzug durch die Jahrzehnte, gespickt mit den TD-Evergreens, die man sofort an den ersten Takten erkennt: 'Dolphin Dance', 'Betrayal', 'Poland', 'Logos', das sind die Klassiker aus den 70er- und 80er-Jahren, die eigentlich zu jedem TD-Konzert gehören.  Sie wechseln sich mit Titeln vom aktuellen Album 'Raum' ab. Die Stimmung könnte im Vergleich zum ersten Teil kaum anders sein: Machten Hoshiko, Thorsten und Paul während des ersten Teils einen konzentrierten und fast versunkenen Eindruck, so überwiegt hier eindeutig die Spielfreude.  Das Trio wirkt fast wie befreit von einer großen Bürde. Selbst Hoshiko geht den Rhythmus in einer Weise mit, wie ich es bei eigentlich noch nie erlebt habe. Man könnte sagen, statt Feier ist jetzt Party angesagt!

Die 'Tangerine Dream Party' endet nach der versprochenen Zeit mit 'White Eagle'. TDs 2024er-Interpretation ist vielleicht nicht ganz so puristisch und nahe am Original, wie es die von S.A.W. am gleichen Ort vor wenigen Wochen war: Deutlich voller und wärmer, aber ohne Frage in der Form, wie es an diesen Ort und zu dieser Stimmung passt. Und bevor die sich wieder verflüchtigt, folgt die mittlerweile obligatorische gegenseitige Vorstellung und Verbeugung, gefolgt vom Selfie mit dem randvollen Saal im Hintergrund.  Auch Ron ergreift die Gelegenheit, diesen Moment in Bildern festzuhalten, und der Saal will sich nur allmählich leeren.

Irgendwann wird aber doch darum gebeten, nach draußen zu gehen, damit die Roadies ihre Abbau-Arbeiten ungestört tun können. Der Abend geht ohnehin draussen im Foyer noch etwas weiter, denn Hoshiko, Paul und Thorsten stehen mittlerweile am Merchandise-Stand und signieren fleißig die ihnen gereichten Alben - seien sie mitgebracht oder gerade erworben. Sie werden den Besuchern eine schöne Erinnerung an dieses Ereignis drei Tage vor Heiligabend sein. Der Blick geht indes - wie immer - bereits ins kommende Jahr: Tangerine Dream soll auch dann wieder im 'De Stoelendans' Station machen. Was dann das Motto sein wird, das steht noch nicht fest. Aber man muss über keine prophetischen Gaben verfügen, um auch dafür wieder einen ausverkauftes Haus vorherzusagen. Einstweilen aber ein frohes Fest, und einen guten Rutsch ins Jahr 2025!

Alfred Arnold

 

Über Empulsiv

Empulsiv wurde 2011 als Webzine für (traditionelle) elektronische Musik gegründet. Es berichtete über ein Jahrzehnt von musikalischen Events und über Veröffentlichungen, präsentierte Interviews und Neuigkeiten aus der Szene. Ende 2022 wurde das Webzine eingestellt. Es wird nun als Infoportal mit Eventkalendar, Linksammlung und Archiv fortgeführt, so dass Neues sowies Vergangenes weiterhin gefunden werden kann.