Einige Musiker in unserer EM-Szene haben so etwas wie ein 'zweites Wohnzimmer': Einen Auftrittsort, an dem sie schon seit vielen Jahren regelmäßig spielen, dessen Eigenschaften man in- und auswendig kennt, und mit dessen Personal man sich auf Zuruf versteht. Über die Jahre hat man sich dazu vielleicht auch noch ein Stammpublikum erspielt, mit dem man fest rechnen kann. Für den einen kann das das Kuppelrund eines Planetariums sein, für den anderen ein Theater, mit dem zusammen man Corona und Betreiberwechsel überstanden hat.

Ein Musiker, der auch so einen Ort hat, und der in unserer Szene vielleicht noch nicht ganz so bekannt ist, wie er es eigentlich verdient hätte, ist Frank Tischer. Sein Stammplatz nicht nur kuppel- sondern fast kugelförmig. Auf die Innenseite wird zwar kein künstlicher Himmel projiziert, dafür aber ist er den echten Himmel ein gutes Stück näher als die meisten anderen Orte. Es ist das Radom auf der Wasserkuppe, unweit seiner Heimatstadt Poppenhausen.
Vor der Wiedervereinigung war der Gipfel der Wasserkuppe militärisches Sperrgebiet und Horchposten; eine ganze Gruppe von Radarantennen unter ihren kugelförmigen Schutzhauben überwachten 24 Stunden am Tag, was sich 'auf der anderen Seite' so bewegt. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs verlor dieser Ort jedoch seine strategische Bedeutung, und die Radaranlagen wurden einige Jahre später abgebaut. Für die verbliebene Kuppel hat sich jedoch ein Förderverein zusammen gefunden, der das Gebäude in Schuss und die Erinnerung an seine frühere Nutzung wach hält. In der Kuppel selber steht keine Antenne mehr - die ist seinerzeit nach Berlin umgezogen. So befindet sich jetzt auf dem Gipfel der Wasserkuppe ein ganz spezieller Ort für Veranstaltungen und Konzerte. Eben dort tritt Frank Tischer regelmäßig in den Sommermonaten live auf.
Im Vergleich zu einem Großplanetarium wie in Bochum ist die Anzahl der Sitzplätze viel beschränkter, und so empfiehlt es sich, die Karten im Voraus zu bestellen. Vom 'Westzipfel' der Republik bis in ihre ungefähre geographische Mitte sind es gut vier Stunden mit dem Auto. Kurz nachdem man die Autobahn verlassen hat, kann man das Radom ein erstes Mal aus der Ferne sehen: Die Wasserkuppe ist die höchste Erhebung in diesem Landkreis, und in ganz Hessen. Ab jetzt geht es auf der Straße fast nur noch bergauf, und kleine Schilder am Straßenrand verkünden die erreichte Höhe: 600, 700, 800 Meter...bis ganz auf den Gipfel von 950 Metern geht es mit dem Wagen aber nicht. Den muss man auf einem der Parkplätze neben Flugplatz und Touristen-Info abstellen. Die Tagesgebühr ist mit zwei Euro zivil, aber das größere Problem ist, an einem Sonntag im Sommer überhaupt noch einen freien Platz zu ergattern.
Ganz vom hinteren Ende von Parkplatz Nummer 5 geht es also zu Fuß weiter. Der Weg geht - wie schon geschrieben - an einem Flugplatz vorbei. Auf der Wasserkuppe wurde mit an der Geschichte der deutschen Segelfliegerei geschrieben, und auch heutzutage ist in dieser Hinsicht noch reger Betrieb. Museen, Restaurants und historische Gebäude laden zum Verweilen ein. Bei mir ist die Zeit leider ein wenig knapp geworden, also geht es schnurstracks weiter in Richtung Gipfel und Radom. Der Weg ist nicht allzu steil: Wer es schon einmal zu einem Erbe-Konzert in der Sternwarte Hagen geschafft hat, für den sollte auch dieses Stück zu Fuß keine Herausforderung darstellen.
Oben angekommen, bietet sich gerade im Sommer bei klarer Sicht ein grandioser Ausblick auf die Landschaft und bis zum Horizont. Übertroffen wird dieses Panorama wohl nur noch, wenn man an einem Gleitschirm hängt und die Aufwinde am Hang nutzt. Der Südhang der Wasserkuppe kann für diese Aktivität genutzt werden, und es sind um diese Tageszeit immer mehrere Flieger in der Luft. Ich bewundere, wie gekonnt sie durch die Lüfte gleiten und sich dabei niemals gefährlich nahe kommen.
Nun aber die letzten Schritte bis zum Radom selber: Rund um die Kuppel wurde eine Aussichtsplattform montiert. Der Zutritt kostet einen kleinen Obolus - in den Konzertkarten ist er aber bereits enthalten. Die Außenwände werden aktuell für eine kleine Fotoausstellung genutzt. Solche Naturaufnahmen bringe ich natürlich mit meiner kleinen Kamera nicht zustande, aber ich hoffe schon, dass auch meine 'Schnappschüsse' von der Plattform aus Lust auf einen Besuch machen. Und wer den Bund fürs Leben schließen will: Das Radom ist auch Hessens höchst gelegenes Standesamt!
Entlang der Treppe zur Plattform, und in einem Raum auf halber Höhe informiert eine Dauer-Ausstellung über die bewegte Geschichte dieser Einrichtung. Ursprünglich von den Alliierten nach dem Krieg errichtet, standen hier mehrere Radar-Antennen. Ende der 70er-Jahre übernahm die Bundeswehr den Betrieb, und Anfang der 90er wurden die alten Antennen und Gebäude durch ein einziges, größeres Radom ersetzt. Das ging aber nie richtig in Betrieb, und 1998 war die militärische Geschichte dieses Ortes endgültig beendet. Seit 2009 ist das Radom ein geschütztes Kulturdenkmal.
Und aus eben diesem dringen jetzt die ersten elektronischen Klänge an meine Ohren. Ein paar Treppenstufen weiter nach oben, und ich bin in der Kuppel selber. Dass diese - wie von Frank versprochen - eine ganz besondere Akustik hat, das merkt man sofort. Die nahezu perfekte Kugelform sorgt für Echos, wie man sie in einem so kleinen Raum nicht erwartet hätte. Ein einfaches Fingerschnippen hallt zum Beispiel fast eine Dreiviertel Sekunde nach, obwohl die Kugel weniger als 20 Meter im Durchmesser misst. Auf so eine Akustik muss man sich auch als Musiker erst einmal einstellen. Frank erzählt mir bei unserem kleinen Plausch vor dem ersten Konzert zum Beispiel, dass er anfangs austesten musste, welche Frequenzen hier genutzt werden können und welche nicht.
Diese Akustik macht auch eine besondere Variante der Ansprache erforderlich: Frank muss seine einführenden Worte zweimal ans Publikum richten, nämlich einmal an die linke und einmal an die rechte Hälfte der Sitzreihen. Die Echos 'verschmieren' die Worte bereits nach wenigen Metern so, dass kaum noch etwas zu verstehen ist. Nur gut, dass die Musik, die wir jetzt hören werden, ohne Worte auskommt, und alleine durch Klänge wirkt.
Damit man sich ganz auf die Klänge konzentrieren kann, schaltet Frank das Licht in der Kuppel aus. Die kleinen Lichtpunkte sind übrigens kein künstlicher Sternenhimmel, es sind die Stoßstellen der Einzelteile, aus denen die Kuppel zusammen gesetzt ist. Dort muss immer etwas 'Luft' bleiben, damit die Teile sich gegeneinander bei Temperaturänderungen bewegen können. Einen schönen Effekt bilden sie in der Dunkelheit aber schon...
Im ersten Konzert spielt Frank sein aktuelles, 2025er-Album "Circumpolar". Wie viele andere auch, hat er sich von der 'Großen der EM' wie Tangerine Dream oder Klaus Schulze beeinflussen lassen, und das hört man auch. Frank zaubert mit seinen Klängen Weite und Atmosphäre in die Kuppel, deren Grenzen wir nun nicht mehr sehen können. Nach etwa 10 Minuten setzt die erste Sequenz ein, und die trägt uns weit ins All hinfort. Hatten wir alle unsere Telefone stumm geschaltet? Deren Geräusche, verbunden mit dem Verstärkungseffekt in der Kuppel, würden in so eine Stimmung hinein jetzt wirklich stören. Aber der Genuss wird durch keine unpassenden Töne gestört. Frank lässt die Stimmung jetzt fast schon ein wenig sakral werden, und taucht die Kuppel dazu in sanftes blaues Licht. Und zum Finale des ersten Konzerts wird es noch einmal richtig bombastisch. Der Titel "Circumpolar", also die Pole umfassend, beschreibt Franks musikalischen Horizont sehr gut - auch wenn die EM seine Liebe ist, so ist er als professioneller Musiker doch auch in vielen anderen Stilen 'zu Hause', und lässt das in seine eigenen Alben einfließen.
Aber man kann so breit aufgestellt sein wie man will, da kann dann doch mal ein Wunsch aus dem Publikum kommen, den man nicht erfüllen kann. Eine Panflöte hat Frank nicht dabei, weder physisch noch als digital gespeicherten Sound. Aber auch so ist das Publikum zufrieden. Einige machen sich wieder auf den Weg zurück, die anderen - wie ich - bleiben für das zweite Konzert des Tages. Bei diesem wird die Kuppel die ganze Zeit illuminiert bleiben, und zusätzlich kommen die zwölf Lautsprecher zum Einsatz, die in einem Halbkreis montiert sind. Dementsprechend ist der Titel des Konzerts auch "Surround 12.1".
Von den damit gebotenen Möglichkeiten, den Zuhörer mitten ins akustische Geschehen zu platzieren, macht Frank von Anfang an Gebrauch. Der Einstieg ist wieder atmosphärisch, aber mit den Geräuschen aus allen Ecken hat man den Eindruck, auf einer Waldlichtung oder an einem Froschteich zu sitzen - überall um uns herum tut sich etwas. Von der Waldlichtung wechseln wir in eine Kirche, und man hat das Gefühl, inmitten der Pfeifen zu sitzen.
In die Orgelklänge mischt sich jetzt etwas, was man als Prasseln oder Feuerwerk deuten könnte. Es wird immer stärker, und Franks Mienenspiel lässt erraten, dass es eher nicht zu den geplanten Sounds gehört. Irgendwann ist es so stark, dass eine Unterbrechung und ein Reboot notwendig werden. Nein, es sind keine Außerirdischen gelandet, wie ein Zuschauer vermutet. Hier oben ist man nicht nur dem Himmel ein wenig näher, auch andere atmosphärische Störungen sind stärker und können die komplexe Technik schon einmal aus dem Tritt bringen. Nach dem Neustart läuft sie aber bis zum Ende des zweiten Konzerts wie ein Uhrwerk. Das ist von der Anlage her deutlich rhythmischer als das erste, stellenweise schon etwas jazzig mit seinen Impros, wo Franks E-Piano förmlich zu glühen scheint. Der modulare Synthesizer ist heute zu Hause geblieben, aber auch so nutzt Frank die Möglichkeiten der Surround-Beschallung voll aus: Das Finale ist erreicht, als ein aus allen Ecken des Raumes kommendes Ticken die Assoziation mit einem Pendel weckt. Ist die eine Stunde so schnell herum gegangen? Ja, das ist sie, und die kleine Unterbrechung war überhaupt nicht schlimm. Wer will, kann die eben gehörte Musik auf CD erwerben, als Download steht sie auch auf seiner Bandcamp-Seite zur Verfügung.
Frank packt seine Instrumente für heute zusammen, aber es wird nicht das letzte Doppelkonzert des in diesem Jahr gewesen sein. "Circumpolar" und "Surround 12.1" werden noch zwei Mal in diesem Jahr aufgeführt werden, und im September folgt noch ein Jahresabschluss-Konzert. Danach geht es erst wieder im kommenden Jahr im Radom auf der Wasserkuppe weiter. Und wer weiß, vielleicht trauen sich auch ein paar Musiker aus 'unserer Szene' in diesen besonderen Raum? Frank ist durchaus für Kooperationen offen, und wird seine Erfahrungen mit diesem Ort gerne teilen. Man darf gespannt sein, was die Zukunft für diesen Ort noch alles bringen wird!
Alfred Arnold
