Nach einem Jahr Bühnen-Abstinenz ist Stefan Erbe 2025 live wieder 'voll da'. Die Sternwarte Hagen, das Schallwelle-Grillfest, das Planetarium Bochum, und das Awakenings im englischen Rugeley liegen bereits hinter ihm (und mir), und im kommenden Monat wird er mit Axess und Maxxess zusammen die Dechenhöhle in Iserlohn in Schwingungen versetzen. Bis dahin ist es aber noch ein guter Monat, und heute sind wir ein weiteres Mal in Hagen. Wir schauen aber nicht von der Sternwarte auf die Stadt hinab, sondern befinden uns mitten in ihr. Direkt neben den Elbershallen, wo man nicht nur sein Auto abstellen kann, befindet sich die Max-Reger-Musikschule.
Erinnert sich noch jemand? Ich auf jeden Fall, denn das Plakat, das 2017 für den Auftritt von Baltes&Erbe in eben jener Musikschule warb, hängt noch heute bei mir in der Küche. Heute wird Stefan hier solo spielen, und der Inhalt seines Konzerts wird das Album sein, das im Zentrum der meisten Erbe-Konzerte in diesem Jahr stand: "Metamorphosys".
"Metamorphosys" ist ein Sequel zur "Genesys 2023" von vor zwei Jahren. Auch hier steht die künstliche Intelligenz GENE im Mittelpunkt, die einen Raumfrachter steuert, eine Wandlung erfährt und eine Entscheidung treffen muss. Die 2025er-Ausgabe ist aber weder eine direkte Fortsetzung, noch eine einfache Neuauflage. Sie ist auch nicht von einer klaren Story begleitet, sondern liefert Bausteine, aus der man sich einen möglichen Plot und eine wahrscheinliche Botschaft konstruieren kann.
Aber fangen wir doch mit dem Bericht beim Beginn des Abends an - Sherlock Holmes hat seinen Doktor Watson gelegentlich ja für die Unart gescholten, eine Geschichte vom Ende her zu erzählen...und der regelmäßige Konsum solcher Hörspiele scheint auf meine Berichte abzufärben...
Das Konzert ist für 19 Uhr angesetzt, und Einlass ist eine halbe Stunde davor. Karten konnte man auf Stefans Webseite im voraus bestellen, die Reservierungen werden jetzt auf einer Liste abgehakt. Im Saal der Musikschule sind gleich zwei der Leinwände aufgebaut, die Stefan gerne mit nimmt, wenn der Spielort selber keine Projektionsfläche bereit stellt. Das verspricht spannend zu werden...von Stefan selber ist im Moment nichts zu sehen, aus dem Keller hört man aber seine Stimme. Kurz darauf kommt er die Treppe hoch, eine Hand an einer Getränke-Kiste - die Gäste sollen heute Abend nicht verdursten. Über dem Metamorphosys-T-Shirt trägt er eine schwarze Weste, der Würde eines solchen Ortes der Kulturpflege angepasst?
Aber egal ob Weste oder T-Shirt, darin steckt der Stefan, wie wir ihn kennen und mögen, und der an einem so intimen Spielort - der Saal ist für keine hundert Besucher(innen) bestuhlt - jeden Gast persönlich begrüßt. Das gilt auch für Luna, die neben dem CD-Stand ihr Plätzchen gefunden hat, und mit ihrer feinen und feuchten Nase Stammgäste direkt wieder erkennt.
Wobei: Die Bezeichnung 'CD-Stand' nicht mehr ganz passend ist, denn "Metamorphosys" ist auch auf BluRay und USB-Stick zu haben, zusammen mit weiteren, selbst kreiertem Merchandise'. Schlüsselanhänger, T-Shirts...alles im Zeichen von GENE.
Die Gäste, die nach und nach eintreffen, füllen den Saal nicht ganz bis auf den letzten Platz aus. Die Atmosphäre ist eine andere als vor zwei Wochen im Planetarium Bochum - ich sage bewusst andere, nicht bessere oder schlechtere - als der Gastgeber des heutigen Abends das Mikrofon ergreift. Martin Rösner ist stellvertretender Leiter der Musikschule, führt den Bereich Rock/Pop und bezeichnet sich selber als Jäger und Sammler - nämlich wenn es um das Programm geht. Bei diesem 'Fang' hat ihn die örtliche Volkshochschule unterstützt, die die Veranstaltung mit finanziert und organisiert.
Regelmäßige EM- und Erbe-Fans werden "Metamorphosys" und dessen Vorgeschichte bereits kennen, aber bei einem nennenswerten Teil der heutigen Besucher wird das noch nicht der Fall sein. So nimmt sich Stefan in seinen einführenden Worten ein paar Minuten Zeit, auf die Vorgänger einzugehen: 2017 entstand die erste Geschichte um GENE, wo sie noch Begleiterin und Assistentin eines menschlichen Astronauten war. Ein Software-Modul, mit dem man Sprache synthetisieren kann, und Dialog-Passagen nicht mehr selber einsprechen muss, gibt Impulse für neue Alben-Konzepte. Es gestattete ihm bei "Genesys 23", der Geschichte um eine künstliche Intelligenz, die eine Entscheidung treffen muss, weiter auszugestalten. Und parallel dazu hatten KI-Systeme sich auch so sprunghaft weiter entwickelt, dass man nun mit einem Prompt Bilder erzeugen konnten. Aus einem Experiment heraus, den Einsteiger-Titel von "Genesys 23" für die Show im Planetarium Bochum etwas anzureichern, entwickelten sich in nur anderthalb Monaten animierte Visuals, die das komplette Album begleiteten - ein echter Meilenstein für Stefan, der ihm einen Schallwelle-Preis eintrug und nach vielfacher Nachfrage auf BluRay veröffentlicht wurde.
Das Ende dieser zweiten Episode um GENE hatte Stefan bewusst offen gelassen, und schnell wurde der Wunsch nach einer Fortsetzung laut. Den hat Stefan nach zwei Jahren erfüllt. Den Fortschritt der KI-basierten Bilderzeugung kann man durch einen bloßen Vergleich der Visuals erkennen, und die Technik schreitet weiter fort. Wie Stefan anmerkt, stellen die Videos zu "The Course of Imperfection" den Stand vom Anfang des Jahres dar und sind eigentlich schon wieder überholt.
Aber zusammen mit Stefans Klängen und der Story entfalten sie auch beim dritten oder vierten Hören und Sehen wieder ihren Zauber. Heute sehen wir sie nicht auf der Kuppel eines Planetariums, sondern - wie bereits erwähnt - auf gleich zwei Leinwänden, also im Super-Breitbild-Format Format 32:9. Das ist im ersten Moment ungewohnt, aber die Augen und das Hirn gewöhnen sich schnell an die gestreckten Bilder, die sich über den kompletten eigenen Sehwinkel erstrecken. Wir befinden uns im 23. Jahrhundert, und künstliche Intelligenzen sind eigen- und selbstständige Existenzen. GENE steuert wieder einen Raumfrachter der AXIS Corporation und ist mehr oder weniger auf sich gestellt, nachdem die irdische Zivilisation von einem Meteoriteneinschlag zerstört wurde.
Sich selbst überlassen, und von einem unvollständigen Software-Update verwirrt, fängt GENE an, über sich selber zu reflektieren. Sie erlebt Schlaf und Traum. Beides sind für sie neue Erfahrungen, wo Bruchstücke vorhandener Erinnerungen zu neuen, teils bizarren Bildern zusammen gesetzt werden. Gerade in diesem Teil der Passage sehen wir besonders kreative und auch manchmal skurrile Bilder, die GENEs innere Verwirrung widerspiegeln. Sie begreift, dass ihr - bei all ihrer Perfektion als künstliche Lebensform - etwas fehlt: Etwas was menschliche Lebensformen ihr voraus haben. Und so macht die sich daran, die Natur zu studieren, und erinnert sich der künstlichen Lebensformen, die im Frachtraum der AXIS auf weiteres Life-Forming warten.
Die gezeigten Lebensformen sind genauso verrückt wie im ersten Teil, und auch dieses Mal sind deren Beschreibungen voll von Anspielungen, die man alle gar nicht beim ersten Sehen erfassen kann. Aber GENE will es bei allen Bemühungen nicht so recht gelingen, Lebensformen zu erschaffen, mit denen man den verwüsteten Planeten wieder bevölkern kann. Irgend etwas fehlt GENE in ihren Datenbanken, und um diese Lücke zu füllen, kehrt GENE zur Erde zurück und sucht in den Trümmern der Zivilisation nach den fehlenden Bausteinen. Sie findet erhaltene Aufzeichnungen: Fotos und Filme, die dokumentieren, wie Menschen lebten, gefühlt und geliebt haben. Und sie begreift, dass sie den Planeten wieder begrünen muss - damit dort wieder eine natürliche Evolution stattfinden kann?
Und nachdem GENE das Terra-, Water- und Greenforming abgeschlossen hat, kann sie sich selber zuwenden: Sie ergänzt ihren eigenen Körper um menschliche Elemente, symbolisiert durch ein Herz. Damit gibt sie eigentlich ihre eigene Perfektion als künstliche Lebensform auf, aber sie ist zu dem Schluss gekommen, dass dies der für sie richtige Weg ist. Diese Wendung am Ende der Geschichte erinnert mich jedes Mal an den Film "Der 200 Jahre Mann". Darin entscheidet ein Androide (gespielt von Robin Williams), seine Unsterblichkeit aufzugeben, um als Mensch anerkannt zu werden. Auch er geht quasi den "Weg zur Unperfektion".
Das Besondere an "The Course of Imperfection" ist aber, dass Stefan Erbe die Teile der Geschichte so erzählt, dass sie auch offen für andere Interpretationen ist. Und ein Kennzeichen bleibender (Kunst-)Werke ist ja, dass sie sich auch in späteren Jahren noch neu interpretieren lassen und eine dann passende Aussage liefern können. Ob das hier auch der Fall sein wird? Wer will das heute schon wissen. Zum Ausklang, und um wieder ins Jetzt zurück zu kommen, spielt Stefan noch zwei Zugaben. Es sind die ersten beiden Tracks der 2017er-Ausgabe von "Genesys", neu arrangiert und mit aktuellen Visuals versehen.
Aber mit diesen Zugaben ist der Abend noch nicht zu Ende. Wie versprochen, steht Stefan jetzt für Fragen zur Verfügung, und hat ein paar Demos vorbereitet, mit denen er den Entstehungsprozess dieses Werks erläutern, und Fragen aus dem Publikum beantworten kann. Eine davon lautet: So ein abendfüllendes visuelles Werk, da muss doch ein ganzes Kreativ-Team dahinter gestanden haben, das ihn dabei zumindest unterstützt haben muss. Nun ja: Dieses 'Team' bestand eigentlich nur aus Frau Erbe, die regelmäßig bei ihm im Studio saß und direktes Feedback zu dem gab, was sie sah und hörte. Und der Clou bei der Bilderzeugung per KI ist ja gerade, dass man auch als Einzelperson beeindruckende Bilderwelten erschaffen kann. Die Kunst besteht wohl darin, der KI per Kommandozeile - eben als 'Prompt' bezeichnet - die richtigen Anweisungen zu geben. Und da bedarf es oftmals dutzender Anläufe und Variationen, bis das gewünschte heraus kommt. So soll GENE ja auch nicht von Szene zu Szene ihr Aussehen verändern. Das erreicht man, indem man den (vielzeiligen) Prompt für jede Szene nur in den letzten ein oder zwei Sätzen verändert. Der Rest, der GENEs Erscheinungsbild möglichst genau spezifiziert, muss immer der gleiche bleiben.
Die Bildgenerator-KI liefert jedoch erst einmal nur zweidimensionale Bilder. Im nächsten Verarbeitungs-Schritt werden sie von einer Software in Ebenen zerlegt, die dann gegeneinander 3D-artig animiert werden. Das ist ein Effekt, den gelegentlich auch Dokumentationen im Fernsehen nutzen, um historische Fotos zum Leben zu erwecken. Im Jargon wird dies als "2,5-dimensional" bezeichnet. Weitere Effekte, wie zum Beispiel ein durch das Bild fliegendes Raumschiff, werden mit einem Animationsprogramm erzeugt, das auch alle Szenen wie in einer Musikkomposition zu dem finalen Film zusammen fügt.
Mit dieser Beschreibung des 'Workflows' beantwortet sich auch eine weitere Frage, nämlich die nach dem Copyright. Für direkt aus der KI stammende Bilder kann man nach aktueller Rechtsprechung kein Copyright beanspruchen, weil sie von keinem Menschen erschaffen wurden. Umgekehrt können KI-generierte Bilder aber das Copyright anderer verletzen, wenn sie einem von einem Menschen geschaffenen Vorbild zu ähnlich sind. Für beides besteht aber bei "The Course of Imperfection" kein Risiko, denn hier ist so viel menschliche Kreativität hinein gegangen, dass das Ergebnis absolut eigenständig und original ist.
Auch nach dieser Frage- und Antwortstunde ist der Abend noch nicht direkt zu Ende. Es bleibt noch Zeit für Gespräche in kleinerer Runde, bis Martin, unser Gastgeber, doch endlich den Raum abschließen und 'Feierabend' machen möchte.
Und eigentlich hatte Stefan ja angekündigt, dass dies der letzte Live-Termin von "The Course of Imperfection" sein wird. Aber man sollte niemals nie sagen: Während der Fragestunde kam ein sehr konkretes Live-Auftrittsangebot für das Frühjahr 2026, und Stefan zeigte sich nicht abgeneigt. Warten wir also einmal ab...
Stefans nächste Station ist aber E-Live am kommenden Samstag in Oirschot, wo er andere Musiker mit Visuals unterstützen wird, und natürlich das Doppelkonzert im November in der Dechenhöhle. Die dortige Umgebung wird Video-Projektionen wie am heutigen Abend nicht gestatten. So wird sich Stefan dafür etwas Neues einfallen lassen. Was das sein wird, das wollte Frau Erbe nicht verraten - sie selber hat ja den direktesten Einblick in seinen Schaffensprozess. Der strebt auch nach der Perfektion, die man als Mensch natürlich nie erreicht. Dass das auch gut so ist, kann man als Quintessenz dieses Abends mitnehmen. Lassen wir uns überraschen, was die Zukunft bringen wird!
Alfred Arnold