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Zwei Kaffeetanten in der Kirche

Es muss irgendwann nach dem "BK&S-Wochenende" 2019 in Repelen gewesen sein, als Detlef Keller ankündigte, nach der 2020er-Ausgabe werde man eine 'Denkpause' einlegen. Ganz so ist es ja bekanntermaßen nicht gekommen: Repelen 2020 fiel als eines der ersten Konzerte dem Virus zu Opfer, und es sollte bis zum Frühjahr 2023 dauern, bis dieses 'letzte Mal'
nachgeholt werden konnte.

Filter-Kaffee Repelen 2024

Nun, es ist ein Jahr später, die Pandemie ist schon fast wieder vergessen, und wir können eine erfreuliche Feststellung machen. Das Überdenken hat nicht dazu geführt, dass unser Quintett rund ums Manikin Label seine Live-Aktivitäten in irgendeiner Weise einzuschränken gedenkt.  Nur zur Erinnerung: Frank Rothe, sowohl 'Und-Zeichen' als auch Tontechniker bei BK&S, ist mit Mario und Bas bei 'Filter-Kaffee' und 'Kontroll-Raum' auf der Bühne aktiv, und Michael Menze darf mittlerweile auch zu dieser Gruppe von Musikern rund ums Manikin-Label gerechnet werden, die in immer neuen Kombinationen unsere kleine, aber feine Szene bereichert.

Im Herbst des vergangenen Jahres kam die Ankündigung für gleich drei Termine in 2024: Zwei davon in der Repelener Dorfkirche, und einer in der Stadtkirche Moers. Und noch eine Neuerung: Der Eintritt in Repelen ist frei, lediglich beim Verlassen der Kirche wird freundlich um eine Spende gebeten. Dieses Prinzip des 'Zahlen-was-man-mag' praktiziert Norbert Sarrazin in Solingen schon seit vielen Jahren und fährt gut damit. Ob es die Unkosten auch hier deckt, wird sich zeigen müssen. Aber es spart auf der anderen Seite zum Beispiel den Aufwand für Ticket-Verkauf und -Versand, und es animiert dazu, sich auch einmal kurzfristig für einen Besuch zu entscheiden.

Als wir eine gute halbe Stunde vor Einlass auf den Dorfplatz vor der Kirche kommen, ist zwar noch nicht viel los, aber die Autos mit Nummernschildern aus vielen verschiedenen Orten lassen zumindest auf Besuch hoffen, der sich vor dem Konzert gerade noch einmal irgendwo stärkt. Ein Blick in den Schaukasten der Kirchengemeinde verrät, dass die Zeit auch hier nicht stehen geblieben ist: 'Brauchen wir einen KI-Jesus?' ist das Thema eines geplanten Vortrags.

Dass die heute gespielte Musik gänzlich natürlicher Intelligenz entsprungen ist und von Menschenhand gespielt wird, das dürfte bei 'Filter-Kaffee' hingegen außer Frage stehen. Frank Rothe und Mario Schönwälder tauchen mit der Musik dieses Projekts in die 70er-Jahre ab, ohne die großen Vorbilder einfach nur zu kopieren.  Große Mengen eines dabei konsumierten, koffeinhaltigen Heissgetränks haben den Namen des Projekts inspiriert. Aber die Anspielung auf eine Baugruppe in klassischen modularen Synthesizern liegt natürlich nahe und wird im Logo versinnbildlicht.

Der heutige Tag ist gleichzeitig der Erscheinungstermin ihres neuen Albums '106', mit dem die 'Filtertüten-Serie' mangels weiterer Vorbilder ihr Ende finden muss (?).  Aber schauen und hören wir heute erst einmal, was geboten wird. Mario sitzt wie immer der Schalk im Nacken, als er beim Einlass fragt, wer denn hier zum Konzert der Backstreet-Boys wolle. Es sind natürlich die die 'Berlin-Boys', die heute spielen, aber immerhin: der Anfangsbuchstabe passt.

Was direkt auffällt: Die Bestuhlung in der Kirche wurde erneuert, die Sitzplätze sind damit jetzt etwas weniger geworden.  Knapp 100 Besucher passen auf Stühle und Bänke, und diese Kapazität wird auch voll ausgenutzt werden. Die Hörer, die dort keinen Platz mehr finden, nutzen stattdessen die Bänke rechts und links unter den Fenstern. Der Zuspruch vom Publikum ist also schon einmal sehr gut, und auch die Mitglieder der oben genannten Gruppe, die heute nicht spielen, sind vollzählig anwesend und aktiv: Michael Menze kümmert sich um den guten Ton im Saal. Detlef macht die Begrüßung und vertritt damit Farah Otten, die heute verhindert ist. Schlussendlich zeichnet Bas für das Licht im Saal verantwortlich.

Von der Art, wie Bas einen Raum ausleuchtet - weiß, mit farbigen Akzenten - war ich ja bereits in Eindhoven sehr angetan, und auch heute dominiert die Farbe der Unschuld auf der Bühne. Weiße Laken verdecken Lampen und Gestelle und wecken bei mir die Assoziation, Mario und Frank würden inmitten einer Eis-Landschaft sitzen. Während des Konzerts werden sie dezent farbig aufleuchten, zusammen mit ferngesteuerten elektrischen Kerzen. Letztere sehen so aus, als hätte Bas mal wieder selber etwas Pfiffiges ausgetüftelt.

Nach Detlefs kurzer Begrüßung dürfen wir dann auch hören, was 'Filter-Kaffee' in den letzten Monaten so ausgetüftelt hat: Glocken und Rauschen eröffnen den ersten Track. Es sind nicht die Glocken, die im Kirchturm hängen, und das Rauschen kommt auch nicht von einer gerade laufendem Kaffeemaschine.  Flächen und andere Sounds werden ganz behutsam ergänzt, um uns in eine entspannte Stimmung zu bringen. Die Atmosphäre bleibt auch so sphärisch, als nach ein paar Minuten die Sequenz hinzu kommt. Man könnte sagen, das ist der minimalistische Sound, der zu dem puristischen Bühnenbild passt - und weniger ist nicht selten ja mehr. Mario verrät uns danach den Namen des ersten Titels: 'The Murky Shadow Kingdom Of Hades', auch auf der '106' an erster Stelle. Das Fundament für weiteres ist gelegt!

Wie nicht anders zu erwarten, wird auf der Bühne aber auch gerne mal  in anderer Reihenfolge gespielt als auf dem Album. 'Kaltwasserhahn' ist Track Nummer vier auf dem Album, live hier und heute aber auf Platz zwei. Er stammt aus der Feder von Frank, und zu Anfang muss er kurz zu Mario herüberkommen, damit der die richtigen Töne findet. Wenn aus dem Kaltwasserhahn auch mal versehentlich warmes Wasser kommt - das kann live passieren, wie Mario im Anschluss bemerkt, und es ist der Beweis, dass hier Menschen und keine künstlichen Intelligenzen am Werk sind.

Passend zum Namen, bleibt die Stimmung erst einmal weiter kühl und minimalistisch - beinahe eine EM-Andacht. Das ändert sich, als eine Sequenz a la 'Rubycon' hinzu kommt und Bas die Kerzen einschaltet. Da wird es gefühlt gleich einige Grade wärmer im Saal. Frank steht für sein Solo auf und jetzt fühle ich mich an den 'Coldwater Canyon' von TDs 1977er-Album erinnert; auch eine sehr passende Anspielung. Damit Mario mit seinem Solo Raum hat, nimmt sich der durch den Canyon tobende Fluss in Folge wieder etwas zurück. Es wird ein langer Titel, und das Wasser fließt immer weiter, bis Mario mit einer Handbewegung in der Luft den virtuellen Hahn wieder zu dreht. Großes Berliner-Schule Kino!

Mit der Ankündigung zum dritten Track löst Mario ein kleines Rätsel auf: Was ist das für ein buntes und verrücktes Objekt, das auf dem Cover der '106' abgebildet ist? Es handelt sich dabei um die 'Weltmaschine' des Österreichers Franz Gsellmann.  Eigentlich wollte dieser Elektriker werden, musste aber dann den väterlichen Hof übernehmen. Und so schraubte und baute er über Jahrzehnte in der Freizeit an einer Maschine, an der sich alles bewegt und leuchtet. Einen erkennbaren Sinn hat nichts davon, der Weg ist das Ziel, das Ergebnis ungewiss, in der Kunst, wie auch manchmal in der Musik. Außerdem: 'Wege entstehen dadurch, dass man sie geht'. Dieses Zitat von Franz Kafka, dessen einhundertster Todestag gerade begangen wird, können wir auch im Begleittext zur '106' nachlesen.

Der gleichnamige Titel hat eine ähnliche Geschichte wie die Weltmaschine: So wie das Werk des Franz Gsellmann nach seinem Tod erst einmal in Vergessenheit geriet und verfiel, so basiert der Titel auf 15 Jahre alten Aufnahmen. Es gelang Mario und Frank nicht mehr, ihn neu einzuspielen. So hören wir bei 'Die Weltmaschine' einen Mix aus alten Aufnahmen und neu dazu gespielten Spuren, und das Ergebnis ist ähnlich komplex und schwer zu durchschauen wie die Maschine selber: Metallische Sounds und ein leicht geisterhafter Touch geben einen Eindruck, wie sie auf den Beobachter wirken muss.

Nachdem Mario alle Mitwirkenden des Abends vorgestellt hat, ist es an der Zeit für ein kleines Rätsel: Worauf spielt der Titel 'River of Decision' an? Nun ja, das ist nicht so schwer, da kann er auch gleich selber die Auflösung geben. Gemeint ist der Rubycon, den Cäsar einst mit seinen Truppen überschritt und der auch Namensgeber für Tangerine Dreams 1975er-Album war. So wie vom Berliner Trio damals wird auch hier die Spannung nach und nach aufgebaut: Der Einstieg ist sphärisch. Flächen und orchestrale Sounds lassen Film-Assoziationen aufkommen. Mit der Sequenz setzen sich hier zwar nicht die Truppen, aber die Töne in Marsch.

Das tun sie eine ganze Weile, bis sie wieder im Nebel verschwinden und dann - ja, dann ist die Zeit eigentlich schon herum! Wenn klassische Berliner Schule zelebriert wird, dann reichen vier Titel schon einmal aus, um eine gute Stunde zu füllen. Detlef kommt noch einmal zu Wort: Wem der Abend heute gefallen hat, darf im März noch einmal nach Repelen kommen, wenn BK&S 'Elektronik pur' präsentieren. Elektronik plus Geige, Gitarre und Tanz, wie man es vom Samstag in Repelen kennt, wird man im Herbst in Moers in der Stadtkirche erleben dürfen. Und wer gar nicht genug EM bekommen kann, der schalte Detlefs Radiosendung 'Ad Libitum' ein, immer am Donnerstag Abend zu bester 'Schwingungen-Zeit'.

Heute Abend hören wir aber noch eine kleine Zugabe, von den sechs Titeln der '106' sind ja erst vier gespielt worden. Zum Abschluss wird das Tempo wieder gemessener, sakrale Töne füllen den Kirchenraum, und Bas zaubert auch noch einmal mit dem Licht. Eine zweite, dieses Mal endgültige Verbeugung, und die Session mit zwei Kaffeetanten ist vollendet.

Das Album in physischer Form will vor der Heimreise noch erworben werden, und bei der Gelegenheit sehe ich einen Mario, der zufrieden die Geldscheine aus zwei Körbchen zählt - eines hat nicht gereicht, sie alle aufzunehmen. Das Konzept mit dem freien Eintritt scheint aufgegangen zu sein, und alle Beteiligten haben sich diesen Lohn redlich verdient. Filter-Kaffees Musik hat auf der '106' noch einmal deutlich an Prägnanz und Charakter zugelegt, und auch Licht und Ton haben an diesem Abend erstklassig geliefert. Um den Fortbestand des Manikin-Labels und seiner Projekte braucht man sich in dieser Form keine Sorgen zu machen. Die daraus entstehenden Events werden auch weiter ein tragender Eckpfeiler des EM-Event-Kalenders bleiben - egal, ob im Repelen, in Moers, oder an einem Ort, von dem wir alle heute noch gar nichts wissen.

Alfred Arnold

Über Empulsiv

Empulsiv wurde 2011 als Webzine für (traditionelle) elektronische Musik gegründet. Es berichtete über ein Jahrzehnt von musikalischen Events und über Veröffentlichungen, präsentierte Interviews und Neuigkeiten aus der Szene. Ende 2022 wurde das Webzine eingestellt. Es wird nun als Infoportal mit Eventkalendar, Linksammlung und Archiv fortgeführt, so dass Neues sowies Vergangenes weiterhin gefunden werden kann.