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Kolumne: vom modernen Medienalzheimer

Da saßen wir nun, zehn Personen, zumeist alle in den Vierzigern, deutlich Medien-Interessiert und sehr ambitioniert in der Mitteilung, sämtliche vergangenen und erlebten Informationen gleichzeitig und gleich laut auszutauschen. Ich war auf einem Zweisitzer-Sofa eingequetscht und verfolgte das undefinierbare Gemurmel dieser Geburtstagsfeier von Hans, der aber selbst schon seit längerer Zeit nicht mehr in der Wohn-Küche, des Ehepaars zu sehen gewesen war. Eher zufällig erblickte ich den Durchgang zu einem Nachbarraum, dessen Tür einen Spalt offen stand und man erkennen konnte, dass dort weitere Personen sitzen mussten. Mein geschultes Überlebensverhalten, schon bei Eintritt in die Wohnung alle Personen, Fluchträume und Notausgänge sondiert zu haben, erleichterte mir die Erkenntnis, dass im Nebenzimmer nur Hans und sein jüngerer Bruder sitzen konnten. Mit einem seichten "Plopp" schälte ich mich aus der Ikea Duo-Couch, ohne dass mich meine beiden Mitsitzgenossen auch nur eines Blickes gewürdigt hätten. Mein linkes Bein war spürbar erwärmt und drohte beinahe in eine dauerhafte Gefühlslosigkeit abzutauchen, während ich im Stuhl-Tisch-Slalom um die mitfeiernden Gäste balancierte.

"Ah...komm rein", forderte Hans mich auf. "Setz Dich, wir schauen uns gerade ein paar Bilder vom Mode-Konzert an". Sein Bruder rutschte ein Stück beiseite und wies mir auf dem schwedischen Zwillings-Bruder-Sofa aus der Wohn-Küche eine Sitzfläche zu. Während ich mich setzte, krächzte sein Smartphone eine Mischung aus übersteuertem "Enjoy the Silence" und krachendem "Personal Jesus". Meine Miene verzog sich! Hans strahlte und drehte das Display zu mir, so dass ich einen Blick auf ein verwackeltes Video werfen konnte, in dem nur winkende Hände, undefinierbare Farbverläufe und das ewig schwatzende "Geil...ist das Geil....ist das sowas von Geil" zu hören war. "Wir waren auf dem Mode Konzert gestern...war ein Geschenk von Gabi". Ich nickte widerwillig und lächelte gequält. "Hier," Hans zeigte auf sein Galaxy S4 "Ich habe das komplette Konzert mitgefilmt....meine Arme tun immer noch weh". Mein Lächeln stieg in der "Gequält-Stufe" auf das höchste Level und ich fragte ihn, wie er das durchhalten konnte? "Keine Ahnung...aber es war einfach nur Geil!" antwortete Hans.
Eigentlich hatte ich schon mit der Hoffnung abgeschlossen, dass der Abend noch etwas "nettes" zu bieten hätte, außer einem Endvierzieger bei der Betrachtung seines eruptionierendem Bildmaterial zu folgen. Sollte ich mich doch wieder in die Wohnküche begeben und mich zwischen die Zalando-Schwestern setzen, Peter und Gerd bei der Mitleidsnummer ihrer versammelten Krankheiten zuhören oder sogar Gabi bei der Entsorgung von leeren Chipstüten und Fass-Brause-Pullen behilflich sein? Nein, dachte ich....ich wollte auch meinen Spass!
"Erzähl mal Hans, wie war das Konzert?" bohrte ich nun hintergründig nach. "Geil, einfach nur Geil.." wiederholte Hans, ohne seinen Blick von seinem Mehrkern-Telefon abzuwenden. "Warte ich zeig Dir was...da musst Du sehen....irgendwo hier.....warte.....gleich kommts.....sekunde.." Hans schob seinen Finger hastig auf dem Display hin und her. Im unteren Bereich der 600 Euro-Technik hatte sich bereits eine breiter Film aus Salzstangenresten und Krombacher Alkoholfrei gebildet. "Hier isses" jubilierte er. Ich schaute ihm gespielt freundlich über die Schulter und lies mir erklären, dass in dieser Szene Dave Gahan ihm zugewunken hätte. Hans gestand aber, dass er nicht mehr genau sagen könne, ob es nicht auch den drei Mädels neben ihm gegolten haben könnte. Meine nächsten Fragen, zu der Technik, den Backroundsängerinnen und der benutzten Hartware auf der Bühne, erwiderte Hans mit einem ungläubigen Blick und erklärte: "Weiss nicht mehr so genau...mein Samsung...hat ja kein Weitwinkel! Und viel konnte man von unten nicht sehen....aber die Wall war Geil....guckste hier!" Wieder hielt mir Hans sein Stück Pixelplastik vor die Nase und wieder konnte man nur eine undefinierbare Soße aus Farben und Gliedmassen erahnen, denn der Begriff verwackeltes Video war in diesem Fall noch weit untertrieben.
"Ich muss mir alles nochmal genau angucken" sagte er hinsichtlich der gewonnenen Eindrücke, die scheinbar nur aus Aufnahmen seines Mobiltelefons bestanden. "Ist ja echt Hammergeil, mit welcher Qualität Du das aufnehmen kannst" frotzelte ich. Hans bejahte dies euphorisch, ohne zu merken, dass ich dies nicht wirklich ernsthaft behaupten würde und suchte nach seinem neuesten Videoeffekt-Tool, mit der er seine Bildermelange nochmal aufpimpen konnte. "Wie lang ging es denn"? bohrte ich weiter. "Warte ich schau mal wie lang die Aufnahme ist...."
"Scheiße" schrie Hans. Sein Handy ging plötzlich und unerwartet einfach aus. Die wiederholten Signalgeräusche hatte er bei der Lautstärke des Videos wohl überhört und ein zweites Fluchen lies vermuten, dass es wohl auch nicht mehr genügend Saft hatte wieder anzugehen. "Wo ist das blöde Netzteil....mist....das habe ich auf der Arbeit liegen lassen...sonen Scheiss"! ergänzte er das Zaudern über sein Missgeschick, nicht aufgepasst zu haben.
Zweifelnd und verzweifelt legte er das S4 auf den Tisch vor ihm und wirkte von Sekunde zu Sekunde zunehmend geknickter. Eigentlich tat er mir nun ein bisschen leid und meine anfängliche "Gemeinheit" ihn mit seiner Technik aufzuziehen wich der echten Intention ihn aufzumuntern. "Ist doch egal, Hans...dann erzähl doch einfach von Gestern" forderte ich ihn auf. "Ey Scheiße man....was soll ich erzählen, ist doch alles auf meinem Handy! Lass uns weiterquatschen wenn ich es morgen aufgeladen habe..."  
Der Abend beschloss sich, dass Gabi gar nicht mehr aufhörte sich zu bedanken und ich nun wusste, wo bei den beiden das Geschirr, der gelbe Müll und das Leergut gelagert wird.

Stefan Erbe 


  

     

 

Über Empulsiv

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