Featured

Computerchemist - Mysterious Cave of Eternal Theta

a11

Auf seinen letzten Alben hat sich Dave Pearson eher von der rockigen Seite gezeigt, und in seinem Labor ausgelotet, wo die Schnittstelle zur EM liegt. Mit seinem neuesten Werk ist er ein paar Jahre weiter in die Vergangenheit gereist - in die Zeit, wo ein Berliner Trio bevorzugt mit einem Track eine komplette LP-Seite füllte. Dementsprechend sind die fünf Tracks auf "Mysterious Cave of Eternal Theta" alle jenseits der Zehn-Minuten-Marke und Freunde von Sequenzen und klassischen Mellotron-Sounds kommen auf ihre Kosten.

Bei genauerer Betrachtung stellt man aber erfreut fest, dass hier nicht einfach eine musikalische Formel vergangener Jahrzehnte nachgekocht wurde. Ist die Sequenz im Einsteiger mehr Rhythmus als Sequenz, schaltet der Chemiker in den folgenden Tracks einen Gang herunter. Dabei variiert er die Elemente und Stimmungen, so dass es auch über die langen Tracks nicht eintönig wird. Das gibt den Spannungsbogen, zu dem man sich eine Geschichte ausdenken kann, und den ich an einem Album so schätze. Es ist auch der Grund, wieso ich Musik so gut wie nie im 'Shuffle-Mode' höre.

Fans klassischer 70er-Jahre Sounds können bei Daves neuem Album bedenkenlos einsteigen. Hier ist alles drauf, was man für eine kleine Zeitreise braucht. Die unternimmt man dann auch gerne mehr als einmal.

https://computerchemist.bandcamp.com/

Alfred Arnold

 

Featured

David Rothenberg, Bernhard Wöstheinrich, Ali Sayah: Homayoun

a11

Bernhard Wöstheinrich ist unter den Elektronikmusikern, die mir bekannt sind, einer der kontakt- und experimentierfreudigsten. Mit den unterschiedlichsten Künstlern hat er schon zusammengearbeitet. Das Album „Homayoun“ hat er gemeinsam mit dem amerikanischen Musiker und Philosophen David Rothenberg und Ali Sayah, Berliner mit iranischen Wurzeln, produziert. David Rothenberg ist im Oeuvre von Bernhard Wöstheinrich bereits ein „alter Bekannter“, Ali Sayah dagegen meines Wissens nach zum ersten Mal dabei.

Der Albumtitel ist erklärungsbedürftig. „Homayoun“ ist laut Wikipedia persisch für Glück oder glückverheißend und „als ursprünglicher Melodie-Titel die Bezeichnung eines musikalischen Modus im Dastgah-System“. Dastgah wiederum „ist ein unter anderem durch seine Tonabstände  (Intervalle der zugrundeliegenden Tonleiter) charakterisiertes modales System in der traditionellen persischen Kunstmusik“. (Quelle: ebenfalls Wikipedia.)

Sehr ungewöhnlich für elektronische Musik sind auf „Homayoun“ die Instrumente. Ali Sayah spielt Bass (nicht ganz so ungewöhnlich) und Tar (sehr ungewöhnlich), David Rothenberg Klarinette und Bassklarinette (ebenfalls sehr ungewöhnlich), Bernhard Wöstheinrich bedient natürlich die elektronischen Instrumente (gar nicht ungewöhnlich). Diese Kombination bringt äußerst ungewohnte Klänge hervor, insbesondere, weil über weite Strecken die akustischen Instrumente im Vordergrund sind. Die Eigenständigkeit, die Bernhard Wöstheinrichs Musik im allgemeinen schon auszeichnet, fehlt auf „Homayoun“ nicht, erreicht durch die Zusammenarbeit der drei Musiker aber eine neue Ausrichtung.

Die Klarinetten David Rothenbergs, was und wie er spielt, würde ich sonst eher im Jazz erwarten. Aber das passt eben auch zur EM. Die Tar, eine Langhalslaute, ist in den Stücken „Homayoun“ und „Surmount“ zu hören und gibt den Tracks einen Touch von Weltmusik. Auch der von Ali Sayah auf „Blesswarp“ gespielte Bass verleiht dem Stück eine eigene Note und macht sich sehr gut in dem Track. Mir wäre nicht bewusst, dass Bernhard Wöstheinrich häufiger auf seinen Alben ein Klavier einsetzt. Auf dem neuen Album „Homayoun“ spielt er in mehreren Stücken das Piano, und auch das ist sehr stimmig.

Ich finde es spannend, wie im Eröffnungstitel „Unfacts“ das scheinbar willkürliche Spiel der Musiker im Verlauf immer mehr zusammengeht und harmoniert. „Blesswarp“ wirkt deutlich „strukturierter“, woran Ali Sayahs Bassgitarre und die von Bernhard Wöstheinrich gespielten Rhythmen großen Anteil haben. Nach dem Titelstück, das vor allem durch die Tar fremd für mitteleuropäische Ohren klingt, beginnt „Compline“ mit den harmonischen Klavierakkorden recht vertraut. „Surmount“, der Abschlusstitel, ist in der ersten Hälfte stellenweise wie das große Finale, wenn die drei Musiker sich „hochschaukeln“. Am Ende gibt es aber keinen Paukenschlag, das Stück hat stattdessen einen sehr langen Ausklang, wie wenn die Musiker sich aus dem Stück verabschieden – und plötzlich ist es vorbei.

Es gibt in der Elektronikszene Musik, die man sich regelrecht erarbeiten muss, um ihr etwas abzugewinnen. „Homayoun“ von Rothenberg / Wöstheinrich / Sayah zähle ich nicht dazu. Das Album ist keine „schwere Kost“. So ungewohnt die Instrumente und Klänge auch sind - wer sich mit Neugier und offenen Ohren diesem Album widmet, entdeckt sicherlich neue musikalische Welten. Natürlich bleibt alles auch immer  Geschmackssache. Ich für meinen Teil bin jedenfalls immer wieder überrascht, welche Vielfalt in der EM möglich ist. Und das ist etwas, was ich nicht missen möchte: Neues entdecken, unerwartete Kollaborationen, überraschende Klänge und Einflüsse - Bernhard Wöstheinrich und seine Mitstreiter sind dafür immer eine gute Adresse.

Andreas Pawlowski

https://bernhardwoestheinrich.bandcamp.com/music

Featured

Otarion - Logos

a11

Ein tolles Cover macht mich gleich neugierig auf das neue Album von Otarion: Ein lichtdurchfluteter Wolkenhimmel, darin der Schriftzug Otarion mit den markanten Buchstaben, und in deutlich größerer Schrift das griechische Wort Logos, sinnigerweise auch in griechischen Buchstaben geschrieben. Das Coverbild erinnert mich an Gemälde, auf denen der Himmel als Wohnung Gottes dargestellt wurde, als Ursprung alles Seins.

Rainer Klein, wie Otarion tatsächlich heißt, veröffentlicht schon seit etlichen Jahren Musik auch mit biblischem und christlichem Bezug. Meist dreht sich dann ein ganzes Album um ein bestimmtes Thema der Bibel. Vor zehn Jahren, 2013, erschien „Out Of Eden“, die beiden letten Alben vor „Logos“ befassten sich mit der Erzählung um Jona (Altes Testament). „Logos“ nun thematisiert den Kern des christlichen Glaubens: Das menschgewordene Wort Gottes, Jesus Christus. Der Beginn des Johannes-Evangeliums beschreibt das mit wunderschönen Sätzen. Otarion illustriert musikalisch das gesamte Geschehen von der Verkündigung über die Geburt Jesu, die Taufe durch Johannes, Verklärung, Kreuzigung, Abstieg in das Reich des Todes („Sheol“), Auferstehung und Himmelfahrt bis zum Pfingstereignis.

Man kann „Logos“ auch völlig losgelöst von den Titeln und dem biblischen Ursprung hören. Man muss auch kein gläubiger Mensch sein, um die Musik zu genießen. Rainer Klein hat erneut ein Werk vorgelegt, das ein wahres Feuerwerk an kraftvollen, rockigen und melodiösen Tracks abbrennt.

Die klassischen Instrumente der Rockmusik kommen in Otarions Musik zum Tragen: Schlagzeug, Bass, E-Gitarre. Mit vielschichtigen Synthesizern - manchmal sind auch Orgelsounds wie im Progressive Rock zu hören - kreiert Rainer Klein seinen Klangkosmos.

Einige Stücke beginnen eher ruhig und verhalten, entwickeln sich aber auch zu druckvollen musikalischen Perlen. Besonders gut gefällt mir „The Transfiguration“ mit großartiger Instrumentierung, sehr schöner Melodieführung und spannender Entwicklung des Stücks. Manchmal, wie z. B. bei „The Spirit Of The Lord Is Upon Me“ oder „Sheol“, bleibt es bei ruhigen Klängen.

Wenn ich mir die einzelnen Titel anschaue, dann sind diese für mich musikalisch absolut nachvollziehbar. Da sind beispielsweise die Versuchungen („Temptation In The Desert“) mit düsterem Rock dargestellt. Wenn Jesus betet, also mit seinem Vater spricht („Jesus Prayer“), wirkt die Musik intim. „Exaltation On The Cross“ hat musikalisch harte Stellen, die den Schmerz, aber auch die Verzweiflung deutlich machen. Passenderweise wird „Resurrection Of Jesus Christ“ regelrecht zur Hymne. „The Ascension“ (Himmelfahrt) wirkt auf mich sphärisch und erhebend, und „Pentecost“ (Pfingsten) ist sehr abwechslungsreich mit ruhigen und aufwühlenden und antreibenden Passaen. So haben sich vielleicht auch die Menschen beim Pfingstereignis gefühlt, wie es in der Apostelgeschichte beschrieben wird.

Wie auch immer man an die Musik auf „Logos“ herangeht, ob man den Titeln und der Intention etwas abgewinnen kann oder nicht - hier haben wir ein großartiges Otarion-Album, das ich jeder Freundin und jedem Freund von kraftvoller EM wärmstens empfehlen kann.

https://otarion.bandcamp.com/

http://mellowjet.de/

Andreas Pawlowski

 

Featured

Rike Casper - Stimmen in der Luft

a11

Auch wenn ich als reiner Konsument in künstlerische Entstehungsprozesse nicht allzu viel Einblick habe: Das Werden eines (Musik-)Albums, von der ersten Idee bis zur Veröffentlichung, ist ein langer Weg, der mit viel Arbeit und Mühe verbunden ist. Ob diese Assoziation bei dem Kunstwort "muësie" eine Rolle gespielt hat, weiß ich natürlich nicht, aber es ist in der Tat so, dass Rike Casper sich für ihr erstes, unter diesem Begriff veröffentlichtes Album viel Zeit genommen hat.

"muësie" steht hier für die Verbindung von Musik und Poesie. Diese Kombination beschäftigt Rike bereits seit einigen Jahren, sei es mit Bettina Dornberg in "Wortklangreich" oder im Trio "zeitzuzeit".  Stammten die Texte dort vornehmlich aus vergangenen Jahrzehnten oder Jahrhunderten, so gehen auf "Stimmen in der Luft" Zeilen aus der Feder zeitgenössischer Poeten eine Verbindung mit Klängen ein.  Dem entsprechend handeln sie auch von aktuelle Themen: Wie der Mensch sich die Welt Untertan gemacht und damit in Unordnung gebracht hat. Oder über den Informations-Overload und dass man immer zu wenig Zeit zu haben scheint, sowohl für Andere als auch für sich selbst.

"Zeit" ist aber ein wichtiger Punkt, denn die muss man sich in diesem Fall nehmen. "Stimmen in der Luft" ist kein Album für den schnellen Nebenher-Konsum. Es braucht diverse Runden bewussten Hörens, um den Sinn und die (Hinter-)Gedanken der Texte zu verstehen, und auch um eine Wertschätzung dafür zu erlangen, wie auf dem Album Klänge und Texte aufeinander abgestimmt wurden. Die Musik erzeugt einen zusätzlichen Spannungsbogen, und indem sie die von verschiedenen Sprechern gelesenen Texte akzentuiert, gibt sie dem geneigten Hörer auch eine Verständnishilfe.

"Stimmen in der Luft" ist sicher kein EM-Album im üblichen Sinne, wie es ansonsten an dieser Stelle besprochen wird. Aber es ist ein spannendes und ambitioniertes Album, zeigt es doch einen Weg auf, wie sich die EM aus ihrer "Ecke" heraus bewegen und mehr als die "üblichen" Hörer erreichen kann.

Wenn man den Rezensenten nun fragt, ob "Stimmen in der Luft" nicht nur alle möglichen Probleme unserer Zeit anspricht, sondern auch ein paar Lösungen dafür liefert: Das wäre zu viel verlangt. Kunst kann nur Denkanstöße geben, und wenn dieses Album es schafft, dass wir für einen Moment auf die Pausentaste unseres Lebens drücken und etwas verweilen, dann ist das bereits ein Verdienst. Dann sind es eben nicht nur Stimmen, die in der Luft verklingen, sondern Gedanken, die sich in Kopf und Herz fest setzen.

https://rikecasper.de/

https://rikecasper.bandcamp.com

Alfred Arnold

 

Featured

Pete Farn - Grainscapes Vol. 1

a11

Was ist elektronische Musik? – Diese Frage ist nicht abwegig, wenn man sich die Werke von Pete Farn anhört. Elektronische Klangerzeugung ist das eine. Auf der anderen Seite kann man auch fragen: Muss es bei der EM immer um Melodie, Rhythmus, Sequenzen gehen? Sicherlich nicht. Gerade die Elektronikmusik bietet ja die vielfältigsten Möglichkeiten. Oft genügen Klänge, Klangstrukturen oder „Soundscapes“, um Hörerinnen und Hörer zu berühren oder anzurühren. Ob etwas gefällt, ist ohnehin eine Frage, die man nur für sich selbst beantworten kann. Manche EM-Produktion will womöglich gar nicht „gefallen“. Ich würde auch nicht behaupten wollen, dass ich „Grainscapes Vol. 1“ von Pete Farn im herkömmlichen Sinn „schön“ finde. Dafür sind die drei Stücke viel zu experimentell. Das Album betrachte ich eher als klangliches Abenteuer.

Das Besondere an „Grainscapes“ ist zunächst einmal die Entstehung dieser Klänge. Ich musste mir mangels Kenntnis erst ein paar Informationen darüber suchen, was „Grains“ bzw. granulare Synthese ist. Sehr vereinfacht kann man vielleicht sagen, dass bei der granularen Synthese Klänge in winzige Teile oder Abschnitte zerlegt werden, die bis wenige Millisekunden kurz sind, um dann wieder neu zusammengesetzt zu werden. Dadurch erzeugt man völlig neue Klänge, aus denen der ursprüngliche Sound möglicherweise kaum noch zu erkennen ist.

Für mich als jemanden, der sich elektronische Musik anhört, ist die Entstehung aber nicht das Wichtigste. Entscheidend ist, was dabei bzw. was aus den Lautsprechern herauskommt. Und ja, was von Pete Farn erklingt, ist „seltsam und experimentell“, wie bei SynGate zu lesen ist. Und zugegebenermaßen ist das auch keine leichte Kost, aber bestimmt nicht unbekömmlich. Melodien? – Fehlanzeige. Rhythmen? – Ja, in seltenen Fällen für eine Zeit lang. Faszinierende Sounds? – Unbedingt.

So seltsam und fremdartig die Sounds auch sind, die Peter Schaefer unter seinem Künstlernamen Pete Farn für sein Album geschaffen hat, sie können doch Bilder vor meinem geistigen Auge aufrufen. Ich sehe zum Beispiel Nebelschwaden, die durch den „Twilight Forrest“ ziehen (wobei mir die Schreibweise des Forest mit zwei „r“ etwas rätselhaft ist), merkwürdige Kreaturen im Unterholz, Vögel, die aufgescheucht werden. Auch in „A Grainy Summerday“ tauchen Bilder auf. Am greifbarsten aber finde ich den kurzen Track „The Hive“: Beim Hören dieses Stückes kann ich mir tatsächlich das Treiben vor oder in einem Bienenstock vorstellen – in Nahaufnahme und Zeitlupe.

Ich weiß nicht, woran es liegt, aber die Klangwelt von „Grainscapes Vol. 1“ fesselt mich. Vielleicht ist es schon die Faszination, die elektronische Klänge auf mich ausüben. Jedenfalls kann ich mir dieses Album gut anhören, und mit der Zeit werden die Klänge auch vertrauter. – Je öfter ich Pete Farns Grainscapes höre, desto faszinierender wird das Album. Musik, die Aufmerksamkeit und Zeit erfordert und sich nicht zur Berieselung eignet. Ich meine, es lohnt sich allemal, diesen Klängen Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen.

https://petefarn.bandcamp.com/

Andreas Pawlowski

Über Empulsiv

Empulsiv wurde 2011 als Webzine für (traditionelle) elektronische Musik gegründet. Es berichtete über ein Jahrzehnt von musikalischen Events und über Veröffentlichungen, präsentierte Interviews und Neuigkeiten aus der Szene. Ende 2022 wurde das Webzine eingestellt. Es wird nun als Infoportal mit Eventkalendar, Linksammlung und Archiv fortgeführt, so dass Neues sowies Vergangenes weiterhin gefunden werden kann.