Otarion - Logos

a11

Ein tolles Cover macht mich gleich neugierig auf das neue Album von Otarion: Ein lichtdurchfluteter Wolkenhimmel, darin der Schriftzug Otarion mit den markanten Buchstaben, und in deutlich größerer Schrift das griechische Wort Logos, sinnigerweise auch in griechischen Buchstaben geschrieben. Das Coverbild erinnert mich an Gemälde, auf denen der Himmel als Wohnung Gottes dargestellt wurde, als Ursprung alles Seins.

Rainer Klein, wie Otarion tatsächlich heißt, veröffentlicht schon seit etlichen Jahren Musik auch mit biblischem und christlichem Bezug. Meist dreht sich dann ein ganzes Album um ein bestimmtes Thema der Bibel. Vor zehn Jahren, 2013, erschien „Out Of Eden“, die beiden letten Alben vor „Logos“ befassten sich mit der Erzählung um Jona (Altes Testament). „Logos“ nun thematisiert den Kern des christlichen Glaubens: Das menschgewordene Wort Gottes, Jesus Christus. Der Beginn des Johannes-Evangeliums beschreibt das mit wunderschönen Sätzen. Otarion illustriert musikalisch das gesamte Geschehen von der Verkündigung über die Geburt Jesu, die Taufe durch Johannes, Verklärung, Kreuzigung, Abstieg in das Reich des Todes („Sheol“), Auferstehung und Himmelfahrt bis zum Pfingstereignis.

Man kann „Logos“ auch völlig losgelöst von den Titeln und dem biblischen Ursprung hören. Man muss auch kein gläubiger Mensch sein, um die Musik zu genießen. Rainer Klein hat erneut ein Werk vorgelegt, das ein wahres Feuerwerk an kraftvollen, rockigen und melodiösen Tracks abbrennt.

Die klassischen Instrumente der Rockmusik kommen in Otarions Musik zum Tragen: Schlagzeug, Bass, E-Gitarre. Mit vielschichtigen Synthesizern - manchmal sind auch Orgelsounds wie im Progressive Rock zu hören - kreiert Rainer Klein seinen Klangkosmos.

Einige Stücke beginnen eher ruhig und verhalten, entwickeln sich aber auch zu druckvollen musikalischen Perlen. Besonders gut gefällt mir „The Transfiguration“ mit großartiger Instrumentierung, sehr schöner Melodieführung und spannender Entwicklung des Stücks. Manchmal, wie z. B. bei „The Spirit Of The Lord Is Upon Me“ oder „Sheol“, bleibt es bei ruhigen Klängen.

Wenn ich mir die einzelnen Titel anschaue, dann sind diese für mich musikalisch absolut nachvollziehbar. Da sind beispielsweise die Versuchungen („Temptation In The Desert“) mit düsterem Rock dargestellt. Wenn Jesus betet, also mit seinem Vater spricht („Jesus Prayer“), wirkt die Musik intim. „Exaltation On The Cross“ hat musikalisch harte Stellen, die den Schmerz, aber auch die Verzweiflung deutlich machen. Passenderweise wird „Resurrection Of Jesus Christ“ regelrecht zur Hymne. „The Ascension“ (Himmelfahrt) wirkt auf mich sphärisch und erhebend, und „Pentecost“ (Pfingsten) ist sehr abwechslungsreich mit ruhigen und aufwühlenden und antreibenden Passaen. So haben sich vielleicht auch die Menschen beim Pfingstereignis gefühlt, wie es in der Apostelgeschichte beschrieben wird.

Wie auch immer man an die Musik auf „Logos“ herangeht, ob man den Titeln und der Intention etwas abgewinnen kann oder nicht - hier haben wir ein großartiges Otarion-Album, das ich jeder Freundin und jedem Freund von kraftvoller EM wärmstens empfehlen kann.

https://otarion.bandcamp.com/

http://mellowjet.de/

Andreas Pawlowski

 

Rike Casper - Stimmen in der Luft

a11

Auch wenn ich als reiner Konsument in künstlerische Entstehungsprozesse nicht allzu viel Einblick habe: Das Werden eines (Musik-)Albums, von der ersten Idee bis zur Veröffentlichung, ist ein langer Weg, der mit viel Arbeit und Mühe verbunden ist. Ob diese Assoziation bei dem Kunstwort "muësie" eine Rolle gespielt hat, weiß ich natürlich nicht, aber es ist in der Tat so, dass Rike Casper sich für ihr erstes, unter diesem Begriff veröffentlichtes Album viel Zeit genommen hat.

"muësie" steht hier für die Verbindung von Musik und Poesie. Diese Kombination beschäftigt Rike bereits seit einigen Jahren, sei es mit Bettina Dornberg in "Wortklangreich" oder im Trio "zeitzuzeit".  Stammten die Texte dort vornehmlich aus vergangenen Jahrzehnten oder Jahrhunderten, so gehen auf "Stimmen in der Luft" Zeilen aus der Feder zeitgenössischer Poeten eine Verbindung mit Klängen ein.  Dem entsprechend handeln sie auch von aktuelle Themen: Wie der Mensch sich die Welt Untertan gemacht und damit in Unordnung gebracht hat. Oder über den Informations-Overload und dass man immer zu wenig Zeit zu haben scheint, sowohl für Andere als auch für sich selbst.

"Zeit" ist aber ein wichtiger Punkt, denn die muss man sich in diesem Fall nehmen. "Stimmen in der Luft" ist kein Album für den schnellen Nebenher-Konsum. Es braucht diverse Runden bewussten Hörens, um den Sinn und die (Hinter-)Gedanken der Texte zu verstehen, und auch um eine Wertschätzung dafür zu erlangen, wie auf dem Album Klänge und Texte aufeinander abgestimmt wurden. Die Musik erzeugt einen zusätzlichen Spannungsbogen, und indem sie die von verschiedenen Sprechern gelesenen Texte akzentuiert, gibt sie dem geneigten Hörer auch eine Verständnishilfe.

"Stimmen in der Luft" ist sicher kein EM-Album im üblichen Sinne, wie es ansonsten an dieser Stelle besprochen wird. Aber es ist ein spannendes und ambitioniertes Album, zeigt es doch einen Weg auf, wie sich die EM aus ihrer "Ecke" heraus bewegen und mehr als die "üblichen" Hörer erreichen kann.

Wenn man den Rezensenten nun fragt, ob "Stimmen in der Luft" nicht nur alle möglichen Probleme unserer Zeit anspricht, sondern auch ein paar Lösungen dafür liefert: Das wäre zu viel verlangt. Kunst kann nur Denkanstöße geben, und wenn dieses Album es schafft, dass wir für einen Moment auf die Pausentaste unseres Lebens drücken und etwas verweilen, dann ist das bereits ein Verdienst. Dann sind es eben nicht nur Stimmen, die in der Luft verklingen, sondern Gedanken, die sich in Kopf und Herz fest setzen.

https://rikecasper.de/

https://rikecasper.bandcamp.com

Alfred Arnold

 

Pete Farn - Grainscapes Vol. 1

a11

Was ist elektronische Musik? – Diese Frage ist nicht abwegig, wenn man sich die Werke von Pete Farn anhört. Elektronische Klangerzeugung ist das eine. Auf der anderen Seite kann man auch fragen: Muss es bei der EM immer um Melodie, Rhythmus, Sequenzen gehen? Sicherlich nicht. Gerade die Elektronikmusik bietet ja die vielfältigsten Möglichkeiten. Oft genügen Klänge, Klangstrukturen oder „Soundscapes“, um Hörerinnen und Hörer zu berühren oder anzurühren. Ob etwas gefällt, ist ohnehin eine Frage, die man nur für sich selbst beantworten kann. Manche EM-Produktion will womöglich gar nicht „gefallen“. Ich würde auch nicht behaupten wollen, dass ich „Grainscapes Vol. 1“ von Pete Farn im herkömmlichen Sinn „schön“ finde. Dafür sind die drei Stücke viel zu experimentell. Das Album betrachte ich eher als klangliches Abenteuer.

Das Besondere an „Grainscapes“ ist zunächst einmal die Entstehung dieser Klänge. Ich musste mir mangels Kenntnis erst ein paar Informationen darüber suchen, was „Grains“ bzw. granulare Synthese ist. Sehr vereinfacht kann man vielleicht sagen, dass bei der granularen Synthese Klänge in winzige Teile oder Abschnitte zerlegt werden, die bis wenige Millisekunden kurz sind, um dann wieder neu zusammengesetzt zu werden. Dadurch erzeugt man völlig neue Klänge, aus denen der ursprüngliche Sound möglicherweise kaum noch zu erkennen ist.

Für mich als jemanden, der sich elektronische Musik anhört, ist die Entstehung aber nicht das Wichtigste. Entscheidend ist, was dabei bzw. was aus den Lautsprechern herauskommt. Und ja, was von Pete Farn erklingt, ist „seltsam und experimentell“, wie bei SynGate zu lesen ist. Und zugegebenermaßen ist das auch keine leichte Kost, aber bestimmt nicht unbekömmlich. Melodien? – Fehlanzeige. Rhythmen? – Ja, in seltenen Fällen für eine Zeit lang. Faszinierende Sounds? – Unbedingt.

So seltsam und fremdartig die Sounds auch sind, die Peter Schaefer unter seinem Künstlernamen Pete Farn für sein Album geschaffen hat, sie können doch Bilder vor meinem geistigen Auge aufrufen. Ich sehe zum Beispiel Nebelschwaden, die durch den „Twilight Forrest“ ziehen (wobei mir die Schreibweise des Forest mit zwei „r“ etwas rätselhaft ist), merkwürdige Kreaturen im Unterholz, Vögel, die aufgescheucht werden. Auch in „A Grainy Summerday“ tauchen Bilder auf. Am greifbarsten aber finde ich den kurzen Track „The Hive“: Beim Hören dieses Stückes kann ich mir tatsächlich das Treiben vor oder in einem Bienenstock vorstellen – in Nahaufnahme und Zeitlupe.

Ich weiß nicht, woran es liegt, aber die Klangwelt von „Grainscapes Vol. 1“ fesselt mich. Vielleicht ist es schon die Faszination, die elektronische Klänge auf mich ausüben. Jedenfalls kann ich mir dieses Album gut anhören, und mit der Zeit werden die Klänge auch vertrauter. – Je öfter ich Pete Farns Grainscapes höre, desto faszinierender wird das Album. Musik, die Aufmerksamkeit und Zeit erfordert und sich nicht zur Berieselung eignet. Ich meine, es lohnt sich allemal, diesen Klängen Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen.

https://petefarn.bandcamp.com/

Andreas Pawlowski

Joerg Dankert - Messages

a11

Was macht für mich einen guten Musiker aus? Zum Beispiel die Fähigkeit, sich zu entwickeln und nicht immer wieder das gleiche Album zu machen. Das hat Joerg Dankert mit seinem neuen Werk gezeigt. War der Vorgänger "Between the Meantime" eine Art Tagebuch der letzten Monate, mit den daraus resultierenden Sprüngen und Brüchen, so haben die Titel auf "Messages" eine gemeinsame Grundidee, in die sie sich einfügen. Dieser Aufhänger ist der Kurzwellen-Funk, der für viele von uns vor dem Internet das Tor in die große weite Welt war. Das schließt sowohl mitgehörte Sprechfunk-Verbindungen ein, als auch  Radiosender aus aller Welt auf diesem Band, inklusive der ominösen "Zahlensender": Auf denen liest eine monotone Stimme endlose Zahlenkolonnen vor, deren Sinn und Inhalt wohl nur die Geheimdienste kennen.

Zu einem Musik-Album gehört natürlich mehr, als nur ein Funkspruch-Samples mit ein paar Sounds zu mixen. Joerg hat aus diesen Zutaten ein echtes Ambient-Album erschaffen, das eine durchgängig warme und heimelige Stimmung erzeugt - eben diejenige, die man als Teenager vielleicht hatte, wenn man abends die Skala am Radio durchkurbelte. Hört man genauer hin, findet man mit den Inhalten der Funksprüche aber eine zweite Ebene. Da die teils militärischen Ursprungs sind, schlägt das die Brücke zu unseren heutigen, leider nicht mehr so friedvollen Zeiten.

So erreicht "Messages" das, was ich hier an früherer Stelle schon über die Alben eines anderen sehr geschätzten Musikers geschrieben habe: Man kann sich einfach zurück lehnen und in der Musik "baden", nach der dritten oder vierten Runde kann man aber auch etwas bewusster eintauchen und sich mit den Botschaften auseinander setzen. Bei mir hat dieses Album deutlich mehr als drei Mindest-Durchhör-Runden bekommen, ein Zeichen dafür, dass die Musik nicht nur einfach hindurchgeht, ohne dass etwas hängen bleibt.

Joerg Dankert neues Album schlägt gekonnt die Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Den diesjährigen Schallwelle Newcomer-Preis völlig zu recht erhalten. Ich bin sicher, wir dürfen von ihm noch  einiges erwarten.

https://joerg-dankert.bandcamp.com/

Alfred Arnold

 

Bernd-Michael Land - Humano:Id

a11

Obwohl die elektronische Musik in ihrer Geschichte immer wieder als geistlose Maschinenmusik verunglimpft worden ist, ist es auch bei ihr immer noch der kreative Mensch vor dem Keyboard, der die Idee zu dem musikalischen Konzept hatte, das einem Album zu Grunde liegt. Und die Selbst-Reflexion über diesen ist die Grundidee von Bernd-Michael Lands neuem Album "Humano:Id".  Wie viel "Mensch" steckt noch in der Musik, die man schafft, oder wie viel von der Technik, derer man sich dabei bedient, hat doch schon vom eigenen Ich Besitz ergriffen?

Die Antwort kann keine einfache sein, dafür ist das Verhältnis von Mensch und Maschine ein zu kompliziertes, auch und gerade in der elektronischen Musik. Genauso vielschichtig und variabel ist das, was auf "Humano:Id" geboten wird: Selbstverständlich gibt es die eher experimentellen Titel, für die Bernd-Michael Land bekannt ist und wo man meinen könnte, eine der vielen Klangmaschinen in seinem riesigen Studio wollte einen Einblick in ihre Eingeweide geben. Aber da sind auch sphärisch/melodische und von Sequenzen getragene Tracks, die in die Zeit zurück verweisen, wo der EM-Musiker wirklich noch jeden einzelnen Klang "per Hand" erzeugen musste.

Auf "Humano:Id" lotet Bernd-Michael Land die menschliche Existenz mit all ihren Facetten und Widersprüchen aus. Anspielungen darauf finden sich in den Namen der Titel und dem - wie immer mit viel Liebe und Aufwand gestalteten - Booklet zur CD: Der Mensch erschafft zum Beispiel nicht nur, er zerstört leider auch. Wie auch schon seine Vorgänger ist "Humano:Id" kein einfaches Album zum Nebenbei-Hören, sondern ein Anstoß zur bewussten Beschäftigung mit einem Thema - und damit auch ein Statement gegen die Art, wie Musik heutzutage im Mainstream konsumiert wird.

Im Begleittext erwähnt Bernd, dass er mittlerweile auf die 70 zugeht - ein Alter, in dem sich Andere zur Ruhe setzen würden.  Erfreulich, dass er immer noch den Antrieb hat, mit solchen Werken bewusst gegen den Strom zu schwimmen. Wir wünschen ihm von dieser Stelle aus die Energie, dass das noch eine Weile so bleibt!

https://bernd-michael-land.com/

Alfred Arnold

 

Über Empulsiv

Empulsiv wurde 2011 als Webzine für (traditionelle) elektronische Musik gegründet. Es berichtete über ein Jahrzehnt von musikalischen Events und über Veröffentlichungen, präsentierte Interviews und Neuigkeiten aus der Szene. Ende 2022 wurde das Webzine eingestellt. Es wird nun als Infoportal mit Eventkalendar, Linksammlung und Archiv fortgeführt, so dass Neues sowies Vergangenes weiterhin gefunden werden kann.