

Mit seinem neuen Album gibt Stefan Erbe dem geneigten Hörer eine kleine Denksportaufgabe auf. "Distopie" verbindet man mit Chaos und Unordnung. Dass es davon aktuell genug gibt, ist unbestritten, dafür genügt ein Blick in die Nachrichten. Aber wo lauert das Chaos auf diesem Album? Stefan selber hält sich mit Erklärungen dieses Mal (bewusst?) bedeckt. Nehmen wir dies als Herausforderung, einmal selbst etwas tiefer zu forschen:
Die Einsteiger-Tracks von "Distopia" vermitteln bei mir eher das Gefühl, auf Wolke Sieben zu schweben - ein Bild heiler Welt und Sound-mäßig schon mehr als nur ein wenig Erbe-Retro. Der Bruch kommt mit "The Day we lost ourselves": Der Ton wird rhythmischer und härter, irgend etwas hat die bisherige Harmonie zerstört. Kurze Zwischenspiele in "At the edge of Storm" und "Last lost Paradise" geben dabei nur kurze Atempausen, bis der Schluss-Track "Breakout" den Ausweg zeigt. Dieser Ausklang ist wieder ein harmonischer, aber ein anderer - zurück an den Anfang geht es aber nicht, der Kreis schließt sich nicht.
"Distopia" erzählt für mich die Geschichte einer Zeitenwende: Wie als sicher geglaubte Dinge sich auflösen und nach einer Phase der Verwirrung, und dem zum Scheitern verurteilten Versuch, am Bisherigen festzuhalten, zu einer Neuorientierung zwingen. Das kann man als Parabel auf die aktuellen Verhältnisse in unserer Welt sehen: Pandemie und Klimawandel zwingen zum Umdenken, weil das "weiter so" eben nicht mehr funktioniert. Aber auch im persönlichen Umfeld gibt es immer wieder Fälle, wo man ohne einen Neuanfang eben nicht weiter kommt.
Unabhängig von diesen philosophischen Betrachtungen ist "Distopia" ein Album, das man auch ohne Kenntnis des Schöpfers beim ersten Hören als eines aus der Erbe-schen Klangwerkstatt identifiziert. Wie immer haben dabei diverse neue Sounds Eingang und ihren Platz gefunden. Man kann und darf den Versuch unternehmen, "Distopia" einfach nur unter diesen Gesichtspunkten als einen Neuzugang in der prall mit Erbe-Alben gefüllten Musikbibliothek zu rezipieren. Aber alleine der Titel gibt mehr als nur einen Wink, dass man dem Album damit nicht gerecht wird. Die Botschaft ist vorhanden, wenn man sie nur hören möchte: Wenn es nicht mehr so weiter geht wie bisher, muss man eben zu neuen Ufern aufbrechen. Aber das ist bei Stefan Erbes Alben nichts Ungewöhnliches, hier ist auf einem neuen Album noch nie der Vorgänger einfach nur reproduziert worden. Insofern habe ich keine Sorge, dass "Distopia" ein musikalischer Schlusspunkt sein könnte, ich bin Gegenteil gespannt, wie das Neue aussehen wird. Lieber Stefan, lass uns nicht so lange warten!
Alfred Arnold
Wenn Stan Dart ein Konzeptalbum veröffentlicht, ist das erfahrungsgemäß schon was Besonderes. Auf jeden Fall außergewöhnlich ist das „Extremly Large Telescope“, das in wenigen Jahren in der Atacama-Wüste von Chile in Betrieb genommen wird - und diesem Monstrum ist das neue Album gewidmet. Das Teleskop ist größer als das römische Kolosseum und hat entsprechend das größte Spiegelglas der Welt für den ultimativen Blick ins All.
Ich starte mit „Cerro Amazones“ und bemerke, dass weder ein sakraler noch ein spaciger Charakter wie auf den vorherigen Alben die Soundrichtung angibt. Vielmehr ist es verheißungsvoll rhythmisch. Der zweite Titel „Construction Time“ erinnert mich an den Monstertrack „La Sagrada Familia“ vom letzten Konzeptalbum – und das war schon bärenstark. Ein packender, geiler Beat zieht mich immer weiter vorwärts bis zum Ende des knapp 14minütigen Tracks. Wer da noch bewegungslos bleibt, kann nur körperlich eingeschränkt sein. Mit viel Power und Spielfreude würdigt Stan Dart in den folgenden Tracks die Multi-Spektografen oder Bildkameras des ELT. „Mosaic“, „Metis“ „Maory“ oder „Micado“ - alle Songs gefallen durch einen rasanten Rhythmus und bleiben dabei doch so angenehm easy-listening. Wenn dann im Titel „HiRes“ noch eine sagenhafte Lead-Gitarre aus dem Off ertönt, wird es auch noch zauberhaft. Dieses positive Feeling setzt sich bis in den finalen Track „Harmoni“ fort. Das klingt fantastisch – das klingt nach Suchtgefahr! Stan Dart tüfftelt kontinuierlich an seinen individuellen, traditionellen Electronic-Sound. An manchen Stellen könnte er sogar seinen Peak erreicht haben. Es ist sicherlich gewagt, über eine Albumlänge einen kontinuierlichen Rhythmus zu präsentieren. Doch „Electronic – Part One“ ist komplett gelungen. Im zweiten Teil des Konzeptalbums gibt’s ein paar ruhigere aber auch kraftvolle Tracks, die zwar allesamt zum Thema passen, jedoch ihre Eigenständigkeit bewahren. Als Bonus schließt das Werk mit einem 51minütigen Continuos-Mix ab. EM-Freund, was willst du mehr?
Erhältlich ab 28. Februar bei Bandcamp.
https://standartmusicbox.bandcamp.com/
Will Lücken

